Orthorexie, Orthorexia nervosa

Orthorexie, Orthorexia nervosa

Psychische Störungen – Gestörtes Essverhalten

Anhaltspunkte, Symptome, Warnzeichen

  • Die obsessiven Gedanken, Verhaltensweisen dauern über eine längere Zeit an.
  • Die Beschäftigung mit dem Ernährungsverhalten beeinflusst die Lebensqualität, z. B. gesellschaftliche Isolation.
  • Die Gedanken beschäftigen sich ständig um das ‘richtige’ Essen bzw. wie man es noch ‘reiner’ machen kann.
  • Es entwickeln sich Schuldgefühle, wenn vom ‘richtigen’ Essen bzw. Ernährungsplan abgewichen wird.
  • Betroffene haben oft ein Überlegenheitsgefühl, möchten andere von der ‘reinen’ Ernährungsweise überzeugen (Missionierung).
  • Nicht selten treten Schäden an der Gesundheit und Tod auf.

Wenn ‘gesundes’ Essen zum Gesundheitsrisiko wird

26.09.2015 Obwohl Orthorektiker annehmen, sie äßen gesund, kann ihr Essverhalten eine negative Auswirkung auf ihre Gesundheit haben.

Obsessives Ernährungsverhalten

Auf ihrer Suche nach gesundem Essen, wenden sich viele Menschen restriktiven Diäten zu – von vegan zu Paleo zu Low-Carb usw. – und glauben, diese wären die “reinsten” oder gesündesten Ernährungsweisen. Aber gehen sie darüber noch hinaus und begrenzen die von ihnen verzehrten Nahrungstypen noch stärker, besteht das Risiko für eine Unterernährung.

Menschen, die obsessiv ihre Ernährung ihrem Ideal der gesunden Kost anpassen, könnten unter Orthorexia nervosa leiden – übersetzt aus dem Altgriechischem mit “richtiger Appetit”.

Obwohl keine offiziell anerkannte Störung im diagnostischen und statistischen Handbuch der psychischen Störungen (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders: DSM-5) kann Orthorexie mit klinisch definierten Essstörungen wie Anorexie verglichen werden, sagt Psychologin Charlotte Markey von der Rutgers University, die dort “Die Psychologie des Essens” lehrt und Essverhalten und Körperwahrnehmung erforscht.

Rutgers Today sprach mit Markey über diese Essstörung, wie man sie identifizieren kann und wie sie am besten behandelt wird.

Was ist Orthorexie?

Orthorexia nervosa

Orthorexie ist eine Form des fehlangepassten Essens, das mit guten Absichten beginnen kann: Die Betroffenen fangen damit an, “unreine” oder “schlechte” Nahrung wie Süßigkeiten, Zucker, Kohlenhydrate – aus ihrer Ernährung zu entfernen, und bevor sie es bemerken, essen sie eine hoch restriktive Kost. Sie denken, dass es Verbesserungsmöglichkeiten gibt, und dass sie immer noch “gesünder” essen können. Sie eliminieren Zucker, dann Salz, dann Weizen, dann Milchprodukte usw. aus ihrer Nahrung.

Sie werden zwanghaft in dem, was sie nicht essen dürfen und verringern immer mehr die Nahrungsmittel, die sie sich selbst erlauben – was sie auch oft sozial beeinträchtigt, denn Essen ist eine gesellschaftliche Erfahrung. Da sie denken, dass sie das “Richtige” tun, stellen sie sich auch nicht die Frage, ob es eine negative Wirkung für ihre Gesundheit geben könnte.

Was sind die Gefahren von Orthorexia nervosa?

Was die Betroffenen nicht realisieren ist, dass viele der von ihnen ‘weggelassenen’ Nahrungsmittel – wie z.B. Kohlehydrate, eine wichtige Energiequelle – wirklich wichtigen Funktionen dienen. Wenn Diäten so einschränkend werden, können mehr als Defizite in der Ernährung daraus resultieren: Orthorektiker können zu wenig Energie aufnehmen und das Depressionsrisiko steigt. In schwerwiegenden Fällen führt Orthorexie schließlich zu Unterernährung, wenn kritische Nährstoffe aus der Kost entfernt werden.

Kann sie mit klinischen DSM-5 Störungen verbunden werden?

In der letzten DSM-Edition gab es eine Kategorie namens “Sonstige Essstörungen”. Diese Klassifizierung würde wahrscheinlich Menschen mit Orthorexie einschließen, die von Nahrung und Essen besessen sind.

Anorexia nervosa ist psychologisch der Orthorexie in der Hinsicht ähnlich, dass beide restriktive fixe Ideen sind, wenn es um die Nahrungsaufnahme geht – nur, dass die Orthorektiker sich mehr mit der Qualität als mit der Menge der Lebensmittel beschäftigen. AnorektikerInnen essen viel weniger Kalorien als OrthorektikerInnen, die oftmals noch “normal” in Bezug auf das Gewicht aussehen.

Wie kann man sehen, ob jemand orthorektisch ist?

Die ernährungsbedingten Auswirkungen dieser extremen Ernährungsweise sind oft nicht offensichtlich, aber Verhaltensänderungen können eine rote Flagge sein. Was Orthorektiker von Menschen unterscheidet, die bspw. GMOs (genetically modified organism) vermeiden, Veganer sind oder nur Biokost essen, dass die Suche nach einer gesunden Ernährung ihr Leben bestimmt.

Sie verbringen unmäßig viel Zeit, über Nahrungsmittel und ihre Ernährung nachzudenken, oder sie vermeiden soziale Situationen, damit sie nicht dazu verleitet werden, von ihnen abgelehnte Nahrung zu essen.

Besorgnis ist angebracht, wenn das Leben dieser Person negativ beeinflusst wird oder es Hinweise dafür gibt, dass sie verzweifelt ist.

Weitere Hinweise, Symptome.

Wie wird Orthorexia nervosa behandelt?

Markey rät zu einem zweigleisigen Behandlungsansatz. Ein ausgebildeter Diätetiker kann beurteilen, ob eine Person sich um die Schlüsselnährstoffe bringt, und ihm oder ihr – wenn ja – helfen, eine abgerundetere Diät zu erstellen.

Es sollte auch ein Psychologe, Psychotherapeut aufgesucht werden, der sich auf Essstörungen spezialisiert. Oft liegen andere psychische Probleme zugrunde, wenn Menschen sich mit negativen Essmustern beschäftigen. Fehlangepasstes Essverhalten kann mit Depression, Süchten und Angststörungen wie z.B. einer Zwangsstörung zusammenhängen, die erfolgreich durch Medikamente und kognitive Verhaltenstherapie behandelt werden können.

“Während wir uns gesund ernähren wollen, möchten wir doch nicht, dass irgendein Essverhalten zu solch einem Zwang wird, dass es unserer körperlichen und psychischen Gesundheit abträglich ist.”

© PSYLEX.de – Quellenangabe: Rutgers University; Sept. 2015

Wenn eine ‘gesunde Ernährung’ eine Essstörung maskiert

12.07.2016 Die qualitative Forschungsarbeit von Joanna Harvey untersuchte gemeinsame Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmale bei Orthorektikern und veröffentlichte die Ergebnisse auf der jährlichen Versammlung der British Psychological Society’s Division of Counselling Psychology in Brighton.

Joanna Harvey von der City University London interviewte vier Personen, die von sich selbst sagten, sie hätten eine ungesunde Einstellung gegenüber gesundem Essen. Sie analysierte deren Antworten, um Gemeinsamkeiten zu finden, und bedachte auch die weiteren soziokulturellen Implikationen ihrer Einstellungen.

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Merkmale

Unter den Gemeinsamkeiten identifizierte sie:

  • Gewichtsabnahme,
  • Schuld,
  • Sucht,
  • Kontrolle,
  • Regeln,
  • Minderwertigkeit und
  • Überheblichkeit.

Harvey sagte, sie wollte das Konzept ‘Orthorexia nervosa’ erforschen, das eine intensive Beschäftigung mit dem richtigen oder ‘heiligem’ Essen bedeutet, sowie die Erzählungen, die die Betroffenen um Gesundheit und Ernährung konstruieren.

Verhaltensweisen

Das Konzept Orthorexie hat noch keinen diagnostischen Status, aber in der klinischen Praxis wird es schon häufig beobachtet. Die Beobachtungen umfassen z.B. Verhaltensweisen wie

  • das Ausklammern ganzer Nahrungsmittelgruppen aus der Ernährung,
  • einen exzessiven Zeitaufwand für die Planung und Zubereitung von Mahlzeiten und
  • soziale Isolation im Namen der Gesundheit,

und sind bei den Betroffenen oft anzutreffen.

In der heutigen (immer mehr) gesundheitsbewussteren Welt können die Linien zwischen einer gesunden Ernährung und der Entwickelung einer psychologischen Obsession verschwimmen, und das gestörte Essverhalten im Namen der Gesundheit wird trotz seiner Gefahren nicht leicht erkannt, sagte Harvey.

© PSYLEX.de – Quellenangabe: City University London, British Psychological Society; Juli 2016

Risikofaktoren

15.05.2019 Eine in der Fachzeitschrift Appetite publizierte Forschungsarbeit untersuchte die Ergebnisse von Studien dahingehend, mit welchen psychosozialen Risikofaktoren Orthorexia nervosa (ON) verbunden ist, sowie die Zusammenhänge mit anderen psychischen Störungen.

Sarah McComb und Jennifer Mills vom Fachbereich Psychologie der York Universität, Toronto stellten dabei fest, dass Geschlecht und Selbstwertgefühl im Allgemeinen in keinem Zusammenhang mit Orthorexie standen.

Perfektionismus, obsessive zwanghafte Eigenschaften, Psychopathologie, gestörtes Essverhalten, eine vorherige Essstörung, Diät-halten, schlechtes Körperbild und der starke Wunsch dünn zu sein waren positiv mit einem stärkeren Trend zu ON verknüpft.

Die Ergebnisse zwischen ON und den folgenden Risikofaktoren waren uneinheitlich bzw. unklar: Alter, sozioökonomischer Status, BMI, Zugehörigkeit zu einem Bereich im Gesundheitswesen, Sport, Vegetarismus / Veganismus, Körperunzufriedenheit sowie Alkohol, Tabak und Drogenkonsum.

© PSYLEX.de – Quellenangabe: Appetite – DOI: 10.1016/j.appet.2019.05.005

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