Freude über Gewichtsabnahme größer als Angst, dicker zu werden?
20.06.2016 Eine in der Zeitschrift Translational Psychiatry erschienene Studie von Inserm, Paris Descartes Universität und Sainte Anne Hospital legt nahe, dass Magersucht weniger durch die Angst vor dem Dickerwerden erklärt wird, sondern eher durch die Lust / die Freude, dünner zu werden, und dass das Phänomen eine genetische Komponente haben könnte.
Kriterien für Diagnose
Anorexia nervosa ist eine Essstörung, die hauptsächlich Mädchen und junge Frauen betrifft. Die Diagnose beruht auf drei internationalen Kriterien:
- Einschränkung der Nahrungsaufnahme, was zur Gewichtsabnahme führt;
- eine verzerrte Wahrnehmung von Gewicht und Körper; und
- eine intensive Angst davor, dick zu werden.
Studienleiter Prof. Philip Gorwood bezweifelt, dass es die Angst vor der Gewichtszunahme ist, die Anorexie-Patientinnen antreibt.
Wirkliche Wurzel: Belohnung für die Gewichtsabnahme?
Bild: Vidmir Raic
Wenn es auch keine pharmakologische Behandlung gibt, hat sich die Mannschaft von Prof. Philip Gorwood auf diese klinischen Kriterien konzentriert. Der Forscher erklärte: Wenn die Forschung nirgendwohin führt, ist es wichtig, die Kriterien an der wirklichen Wurzel der Störung in Zweifel zu ziehen.
„Wir haben deshalb das letzte Kriterium neu bewertet, obwohl es im Patienten-Diskurs recht prominent ist, und nehmen an, dass es ein Spiegelbild dessen ist, was wirklich beteiligt ist, d.h. eine Belohnung für die Gewichtsabnahme. Wir nehmen an, dass die Patientinnen eher Vergnügen beim Dünnerwerden als Angst vor dem Dickerwerden empfinden.“
Um nicht unter den Einfluss der Patientinnen über Erörterung und Analyse ihrer Essstörungen zu geraten, setzten die Forscher einen Test zur Hautleitfähigkeit ein, der das Schwitzen der Teilnehmerinnen maß, während sie bestimmte Bilder anschauten.
Messen der Emotionen
Die Emotion, die durch bestimmte Bilder tatsächlich verursacht wird, führt zu einer schnellen und automatischen Zunahme beim Schwitzen.
Die Forscher zeigten 70 Patientinnen des Sainte Anne Hospital Bilder normal- oder übergewichtiger Menschen. Diese Patientinnen – mit unterschiedlichem Gewicht und Ausmaß der Magersuchtsymptome – zeigten beim Anschauen dieser Bilder ähnliche Reaktionen wie gesunde Teilnehmer.
Schauten sie sich jedoch Bilder dünner Körper an, konnten bei den Patientinnen positiv bewertete Gefühle beobachtet werden, wohingegen gesunde Teilnehmer keine besonderen Reaktionen zeigten.
Vererbung der Anfälligkeit
Anorexie ist eine hocherbliche Störung (70 %), sagen die Forscher. Eines der – meist mit Magersucht verbundenen – Gene kodiert BDNF (Brain-derived neurotrophic factor) – ein Wachstumsfaktor, der eine Rolle beim Überleben der Nervenzellen und Neuroplastizität spielt.
Bei Patientinnen mit Anorexia nervosa – legt die Studie nahe – kommt es zu einer Zunahme des Schwitzens beim Betrachten von dünnen Körpern durch das Vorhandenseins einer spezifischen Form (Allel) des fraglichen Gens.
Dieser Befund wurde nach der Überprüfung potenzieller Störfaktoren von Variablen wie Gewicht, Typ der Anorexie oder Dauer der Störung bestätigt.
Die Befunde dieser Forschungsarbeit:
- Sie unterstützt den genetischen Ansatz als einen anderen Weg, auf die Schlüsselsymptome der Magersucht zu zielen;
- sie orientiert die Forschung eher an den Belohnungssystemen als der phobischen Vermeidung;
- schließlich weist sie darauf hin, dass bestimmte therapeutische Ansätze – wie kognitive Remediation und Achtsamkeitstherapie – eine eindeutige vorteilhafte Wirkung auf diese Krankheit haben könnten.
© PSYLEX.de – Quellenangabe: Inserm, Translational Psychiatry; Juni 2016
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