Warum viele unheilbar Kranke sich einer intensiven, letzten aber nutzlosen Behandlung unterziehen

Das TRIBE-Modell: Wie sozioemotionale Prozesse die Behandlung im Endstadium vorantreiben

Warum viele unheilbar Kranke sich einer intensiven, letzten aber nutzlosen Behandlung unterziehen

18.01.2023 Forscher der Rutgers und anderer Universitäten haben ein Verhaltensmodell entwickelt, das ein langjähriges Rätsel der Gesundheitsversorgung erklärt: Warum unterziehen sich so viele unheilbar kranke Patienten intensiven Behandlungen, die wenig Aussicht auf eine nennenswerte Lebensverlängerung bieten?

Aus Umfragen geht immer wieder hervor, dass fast alle Menschen lieber friedlich zu Hause sterben würden. Dennoch sind schmerzhafte, langwierige Behandlungen nach wie vor üblich, und die Anstrengungen, den Einsatz zu reduzieren, sind gescheitert.

Psychologie des Arztes und die Familiendynamik

Bisherige Analysen haben meist die Behandlungspräferenzen der Patienten am Ende des Lebens in den Vordergrund gestellt. Das neue Modell, das von seinen Schöpfern als Transtheoretisches Modell des irrationalen biomedizinischen Überschwangs (Transtheoretical Model of Irrational Biomedical Exuberance, TRIBE) bezeichnet wurde, konzentriert sich ganz auf die Psychologie des Arztes und die Familiendynamik.

„Die alten Modelle gingen davon aus, dass Ärzte rein rationale Akteure sind, die ihre Patienten zu logischen Entscheidungen führen“, so Paul R. Duberstein, Hauptautor der Studie und Vorsitzender der Abteilung für Gesundheitsverhalten, Gesellschaft und Politik an der Rutgers School of Public Health. „Sobald Ärzte eine Behandlung oder ein Verfahren empfohlen haben, besteht ein enormer Druck auf die Patienten, sich dieser Behandlung zu unterziehen.“

Das TRIBE-Modell kombiniert zwei ältere Theorien – die Theorie der sozioemotionalen Selektivität und die Terror-Management-Theorie – um zu erklären, warum dies geschieht. Das Modell zeigt, wie emotionaler Druck auf Ärzte und komplexe Familiendynamiken übermäßige Anstrengungen zur Heilung unheilbarer Krankheiten hervorrufen.

Irrationaler Überschwang

„Dieses Modell berücksichtigt Forschungsergebnisse, wonach Ärzte wie alle Menschen emotionale Wesen sind, und dass diese Emotionen die Entscheidungen ihrer Patienten stark beeinflussen“, so Duberstein. „Ärzte geben ihre Patienten nur ungern auf und empfehlen daher oft Behandlungen mit sehr geringen Erfolgsaussichten. Das wird sich nicht ändern, solange wir die medizinische Ausbildung und die Kultur der irrationalen biomedizinischen Exuberanz (Überschwänglichkeit oder Überschwang) nicht verbessern.“

„Irrationale Exuberanz“ bzw. „irrationaler Überschwang“ ist ein Begriff, den der Ökonom Alan Greenspan berühmt gemacht hat, um die Stimmung unter den Anlegern im Vorfeld des Dot-Com-Crashs zu beschreiben, aber Duberstein und seine Kollegen sagten, dass er Ärzte und Patienten schon lange genauso betrifft wie die Wall Street. Sie lesen von „One-in-a-million“-Heilungen und glauben irrationalerweise, dass sie oder ihre Patienten diese „One-in-a-million“ sein werden – so wie Lotterielose kaufende Menschen glauben, dass sie die glücklichen Gewinner sein werden.

Der Hinweis auf die Irrationalität der Entscheidung berührt die Ärzte nicht mehr als die Lottospieler. Die Forscher glauben sogar, dass es Ärzte weniger stört, denn im Gegensatz zum Glücksspiel, das oft als Laster dargestellt wird, wird der Kampf um die Erhaltung des Lebens normalerweise als Tugend dargestellt. Die Motive für die Verschreibung von Langzeitbehandlungen sind edel – den Tod zu vermeiden, ein Leben zu retten, „alles zu tun, was wir können“, „einen Kampf zu führen“ und „niemals aufzugeben“. In dieser Sichtweise ist die Nichtverschreibung von Langzeitbehandlungen gleichbedeutend mit der Aufgabe von Patienten, und für die Patienten ist die Nichtvergabe dieser Behandlungen gleichbedeutend mit der Aufgabe ihrer Angehörigen.

Scham für Ärzte und Schuldgefühle für Hinterbliebene

Die Autoren, die auch von Universitäten wie Tulane, Rochester und Rowan kommen, fordern neue Ansätze für die klinische Versorgung und die Aufklärung der Öffentlichkeit, um die Emotionen anzusprechen, die nutzlose Behandlungen am Lebensende auslösen.

„In gewisser Weise ist jeder Tod eines Patienten eine potenzielle Quelle der Scham für Ärzte und eine Quelle der Schuld für die Hinterbliebenen“, so Duberstein. „Indem wir die Kultur der medizinischen Ausbildung und die breitere kulturelle Einstellung zum Tod ändern, können wir die Emotionen und die Familiendynamik ansprechen, die zu viele Patienten davon abgehalten haben, in ihren letzten Lebenstagen und -wochen eine qualitativ hochwertige Versorgung zu erhalten.“

© Psylex.de – Quellenangabe: Social Science & MedicineDOI: 10.1016/j.socscimed.2022.115546

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