Die neuronalen Mechanismen hinter Autismus: Veränderte sensorische Verarbeitung von Kommunikationssignalen
22.02.2022 Eine aktuelle neurowissenschaftliche Studie der Technischen Universität Dresden zeigt, dass bei Erwachsenen mit Autismus die Verarbeitung von Kommunikationssignalen bereits in der subkortikalen Hörbahn – einer Struktur, die die Ohren mit der Großhirnrinde verbindet – verändert ist. Bisher wurde angenommen, dass Schwierigkeiten in der Verarbeitung von Kommunikationssignalen bei Autismus hauptsächlich mit Verarbeitungsunterschieden in der Großhirnrinde oder in Hirnstrukturen, die mit der Gefühlsverarbeitung zusammenhängen, auftreten. Die neuen Ergebnisse wurden kürzlich in der Open-Access-Zeitschrift „Human Brain Mapping“ veröffentlicht.
Das Erkennen von Stimmen ist ein evolutionär alter Prozess. Reaktionen auf Stimmen sind bereits beim Fötus im Bauch der Mutter vorhanden. Schon vor der Geburt reagiert der Fötus auf die Stimme der Mutter anders als auf die Stimme eines Fremden. Bei Autismus kann eine veränderte Stimmwahrnehmung bereits im frühen Säuglingsalter beobachtet werden. Auch im späteren Leben sind Veränderungen in der Stimmverarbeitung bei der autistischen Wahrnehmung auffällig. Dies beinhaltet z.B. Schwierigkeiten bei der Erkennung von Personen anhand ihrer Stimme, oder beim Erkennen von Gefühlen anhand der Stimmmelodie. Auch die Erkennung von Sprache in lauten Umgebungen kann für Personen im Autismus-Spektrum besonders herausfordernd sein.
Neurowissenschaftlerin Prof. Katharina von Kriegstein und ihr Team an der TU Dresden haben nun eine neue Studie vorgestellt, in der sie die Funktionsfähigkeit der Hörbahn für die Stimmverarbeitung in drei unabhängigen funktionellen Magnetresonanz-tomographie-Experimenten (fMRT) bei Gruppen von Erwachsenen im Autismus-Spektrum und nicht autistischen Kontrollgruppen untersuchten. Die Mitglieder der Kontrollgruppen wurden nach Alter, Geschlecht, Händigkeit und IQ so ausgewählt, dass sie mit ihren Partner:innen in der Versuchsgruppe weitestgehend übereinstimmten. Die Forschenden konzentrierten sich auf zwei Aspekte der Stimmverarbeitung, die bei Autismus beeinträchtigt sind: Die Wahrnehmung der Stimmidentität und das Erkennen von Sprache in geräuschvoller Umgebung. „Wir fanden bei den autistischen Personen im Vergleich zur Kontrollgruppe eine verringerte Aktivierung in den sogenannten ‚unteren Hügeln‘ (Colliculi inferiores (IC)), einer zentralen Mittelhirnstruktur der Hörbahn. Die Unterschiede traten insbesondere auf, wenn sich die Studienteilehmer:innen auf die Identität einer Person (im Vergleich zum Inhalt des Gesagten) oder generell auf Stimmen (im Vergleich zu nicht-stimmlichen Reizen wie beispielsweise Musikinstrumente), konzentrierten. Wir fanden zudem erste Hinweise darauf, dass es im IC Unterschiede bei der Verarbeitung von Sprache in geräuschvoller Umgebung gibt“, beschreibt Erstautorin Dr. Stefanie Schelinski die Ergebnisse.
Bisherige Studien hatten sich nicht auf die Hörbahn konzentriert, die mit der akustischen Sinnesverarbeitung verbunden ist. Sie führten Schwierigkeiten in der Verarbeitung von Kommunikationssignalen bei Autismus hauptsächlich auf relativ späte Verarbeitungsstufen in Hirnstrukturen der Großhirnrinde oder auf tiefer im Gehirn liegende Strukturen zurück, die mit der Verarbeitung von Gefühlen in Verbindung stehen. Nun liefert das Team der TU Dresden neue Hinweise darauf, dass bei Autismus Veränderungen in der neuronalen Verarbeitung von Stimmen bereits in frühen Verarbeitungsphasen auftreten, wenn das Kommunikationssignal analysiert wird. Die Berücksichtigung von Veränderungen in der frühen sensorischen Verarbeitung der Stimme bei der Erklärung von Kommunikationsschwierigkeiten im Autismus ist ein neuer Ansatz.
„Ein besseres Verständnis der neuronalen Mechanismen, die für Autismus verantwortlich sind, bietet eine Grundlage für den Transfer in die klinische Diagnostik, etwa bei der Suche nach diagnostischen Markern. So könnte zukünftig die Prüfung von Beeinträchtigungen in der Erkennung der Stimmidentität, von Emotionen in der Stimme oder der Wahrnehmung akustischer Stimmmerkmale, wie der Stimmlage, ein zusätzliches Instrument bei der Diagnose von Autismus sein. Frühere Studien lieferten erste Hinweise darauf, dass Hirnstrukturen, die mit der auditiven Verarbeitung in Zusammenhang stehen, durch Training verändert werden können. Darauf aufbauend könnten sich durch die Studienergebnisse zusätzliche therapeutische Möglichkeiten ableiten. Ein erweitertes Grundlagenwissen über die veränderte Stimmverarbeitung bei Autismus verbessert auch die Beschreibung und Klassifizierung von Herausforderungen in der zwischenmenschlichen Kommunikation, mit denen Menschen im Autismus-Spektrum häufig konfrontiert sind“, erläutern Katharina von Kriegstein, Professorin für Kognitive und Klinische Neurowissenschaften, und ihre Mitarbeiterin Dr. Stefanie Schelinski die Bedeutung ihrer Ergebnisse.
Originalpublikation: Stefanie Schelinski, Alejandro Tabas, Katharina von Kriegstein. Altered processing of communication signals in the subcortical auditory sensory pathway in autism. Human Brain Mapping,1–18. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/hbm.25766
Quellenangabe: Pressemitteilung Technische Universität Dresden