So niedlich, dass man es quetschen will: Was geschieht im Gehirn bei ’süßer Aggression‘?
05.12.2018 Haben Sie schon einmal einen Welpen, ein menschliches Baby oder ein Plüschtier angeschaut und hatten den Drang, ihn zu quetschen oder sogar zu beißen? Oder fühlten Sie sich getrieben, die Wangen eines Babys zu kneifen, wenn auch ohne den Wunsch, es zu verletzen?
Dieses psychologische Phänomen ist weit verbreitet und wird ‚cute aggression‘ im Englischen genannt (übersetzt von einigen mit ’süße Aggression‘; eine andere passende wäre vielleicht: Niedlichkeitsaggression).
Bislang war die Erforschung, wie und warum Niedlichkeit Aggressionen auslösen kann, die Domäne der Verhaltenspsychologie, sagt Katherine Stavropoulos vom Fachbereich Psychologie der Universität California, Riverside. Aber kürzlich hat Stavropoulos das Phänomen in neurowissenschaftlicher Hinsicht untersucht.
Süße Aggression im Gehirn
Bild: Bruno Glaetsch
In ihrer in der Zeitschrift Frontiers in Behavioral Neuroscience veröffentlichten Forschung nutzt Stavropoulos die Elektrophysiologie, um die elektrische Aktivität auf Oberflächenebene zu bewerten, die durch im Gehirn von Menschen feuernde Neuronen entsteht. Indem sie diese Aktivität untersuchte, maß sie die neuronalen Reaktionen auf eine Reihe von äußeren Reizen.
Stavropoulos und Laura Alba rekrutierten 54 Studienteilnehmer im Alter zwischen 18 und 40 Jahren, die sich alle bereit erklärten, Kappen mit Elektroden zu tragen. Beim Tragen der Kappen betrachteten die Teilnehmer vier Blöcke mit 32 Fotos, die in die Kategorien eingeteilt waren:
- Niedliche (durch Computer noch niedlicher gemachte) Babys
- Weniger süße (nicht ‚verbesserte‘) Babys
- Niedliche (Baby-)Tiere
- Weniger niedliche (erwachsene) Tiere
Überfordert durch Niedlichkeit?
Die Teilnehmer sollten die Niedlichkeit und ihre ‚cute aggression‘ auf einer Skala von 1-10 einschätzen. Sie bewerteten auch, wie überwältigt sie sich nach dem Betrachten der Fotos fühlten („Ich kann nicht damit umgehen!“ und „Ich kann es nicht ertragen!“) und ob sie sich gezwungen fühlten, sich um das zu kümmern, was sie gerade gesehen hatten („Ich will es halten!“ und „Ich will es beschützen!“).
Stavropoulos sagte, dass die Aussagen die gleichen seien, die auch in der bahnbrechenden Studie von 2015 von der Yale-Forscherin Oriana Aragón zur süßen Aggression gemacht wurden.
Insgesamt berichteten die Teilnehmer selbst über mehr signifikante Gefühle von durch Niedlichkeit hervorgerufene Aggression, Überwältigung, Wertschätzung und Fürsorge für niedliche Tiere bzw. Tierbabys als für weniger niedliche (erwachsene) Tiere. Unter den beiden Kategorien von Babys – niedlich (verbessert) und weniger niedlich (nicht verbessert) – beobachteten die Forscher nicht dasselbe Muster.
Belohnungs- und Emotionssystem des Gehirns beteiligt
Basierend auf der neuronalen Aktivität, die sie bei Teilnehmern beobachtete, die eine ’niedliche Aggression‘ erlebten, bieten Stavropoulos Ergebnisse einen direkten Beleg dafür, dass sowohl das Belohnungssystem des Gehirns als auch das Emotionssystem an dem psychologischen Phänomen beteiligt sind.
Es gab einen besonders starken Zusammenhang zwischen den Bewertungen der süßen Aggression gegenüber niedlichen Tieren und der Belohnungsreaktion im Gehirn gegenüber niedlichen Tieren, sagte die Psychologin. Das ist ein spannender Befund, da er unsere ursprüngliche Hypothese bestätigt, dass das Belohnungssystem an den Erfahrungen der Menschen mit süßen Aggressionen beteiligt ist.
Zusammenhang mit Überwältigung
Ein weiteres Ergebnis verleiht den vorherigen Theorien Gewicht: Die Beziehung zwischen dem, wie süß etwas ist und wie viel Cute-Aggression jemand erlebt, scheint damit verbunden zu sein, wie überwältigt sich diese Person fühlt.
Im Wesentlichen tritt süße Aggression bei Menschen auf, die zu einem Gefühl der Überforderung neigen, wenn etwas zu süß / niedlich ist, sagte Stavropoulos. Niedlichkeitsaggression scheint das Gehirn wieder ‚abzukühlen‘, indem es unsere Gefühle der Überwältigung schlichtet.
Evolutionspsychologie: fürsorgliche Adaption
Stavropoulos vergleicht diesen Prozess der Mediation mit einer evolutionären Anpassung. Eine solche Adaption könnte sich entwickelt haben, um sicherzustellen, dass sich die Menschen weiterhin um die Lebewesen kümmern können, die sie für besonders niedlich halten.
Wenn man zum Beispiel sich selbst durch die Niedlichkeit eines Babys überfordert fühlt – so sehr, dass man sich einfach nicht darum kümmern könnte – wird es verhungern, sagte die Psychologin. Die Cute-Aggression kann als ein Temperierungsmechanismus dienen, der es uns erlaubt, zu funktionieren und uns tatsächlich um etwas zu kümmern, das wir zuerst als überwältigend niedlich empfinden (könnten).
© PSYLEX.de – Quellenangabe: Frontiers in Behavioral Neuroscience – https://dx.doi.org/10.3389/fnbeh.2018.00300