Frontale Sprachareale entstehen nicht, wenn keine temporalen Sprachareale vorhanden sind: Eine Fallstudie einer Person, die ohne einen linken Temporallappen geboren wurde
17.04.2022 Ein Forscherteam mit Mitgliedern des MIT, der Carnegie Mellon University, der UCLA und der Harvard University hat herausgefunden, dass eine Frau ohne linken Schläfenlappen ein Sprachnetzwerk in der rechten Gehirnhälfte entwickelt hat, das es ihr ermöglicht, normal zu kommunizieren.
Die Gruppe veröffentlichte ihre Gehirnstudie in der Zeitschrift Neuropsychologia.
Im Jahr 2016 wandte sich eine Frau in den Fünfzigern, die nur EG genannt werden möchte, an Hirnforscher des MIT, um sich über ihr „interessantes Gehirn“ zu informieren. Sie hatte keinen linken Schläfenlappen. Das Team des MIT verwies sie an die kognitive Neurowissenschaftlerin Evelina Fedorenko von der Harvard University, die sich über die Gelegenheit freute, ein solch „interessantes Gehirn“ zu untersuchen.
Das „interessante“ Gehirn
EG erzählte Fedorenko und ihrem Team, dass sie nur durch Zufall erfuhr, dass sie ein ungewöhnliches Gehirn hatte – ihr Gehirn wurde 1987 aus einem anderen Grund gescannt. Vor dem Scan hatte sie keine Ahnung, dass sie anders war. Vom Gesamteindruck her verhielt sie sich normal und hatte sogar einen Hochschulabschluss erworben. Außerdem war sie sprachbegabt – sie spricht fließend Russisch -, was umso überraschender ist, als der linke Schläfenlappen der Teil des Gehirns ist, der am häufigsten mit der Sprachverarbeitung in Verbindung gebracht wird.
Die Forscher wollten mehr über die Frau und ihr Gehirn erfahren und nahmen sie in eine Studie auf, bei der Bilder ihres Gehirns mit einem fMRT-Gerät aufgenommen wurden, während sie verschiedene Aufgaben in den Bereichen Sprachverarbeitung und Mathematik erledigte. Dabei fanden sie keine Hinweise darauf, dass die Sprachverarbeitung im linken Teil ihres Gehirns stattfand, sondern alles auf der rechten Seite.
Sie stellten fest, dass die Frau wahrscheinlich ihren linken Schläfenlappen als Kind verloren hatte, wahrscheinlich durch einen Schlaganfall. Der Bereich, in dem er sich befunden hatte, hatte sich mit Liquor gefüllt. Um dies zu kompensieren, hatte ihr Gehirn ein Sprachnetzwerk in der rechten Gehirnhälfte entwickelt, das es ihr ermöglichte, normal zu kommunizieren. Die Forscher erfuhren auch, dass EG eine Schwester hatte, der der rechte Schläfenlappen fehlte und die ebenfalls keine Symptome einer Hirnfunktionsstörung aufwies – ein Hinweis darauf, so die Forscher, dass es eine genetische Komponente für den Schlaganfall und den Genesungsprozess bei den beiden Frauen gibt.
© Psylex.de – Quellenangabe: Neuropsychologia (2022). DOI: 10.1016/j.neuropsychologia.2022.108184