Wer würde einen Menschen opfern, um fünf zu retten? – Weltweite Unterschiede in moralischen Entscheidungen
Die Bereitschaft, einen Menschen zu opfern, um mehrere zu retten, unterscheidet sich von Land zu Land. Das zeigt eine wissenschaftliche Studie mit 70.000 Teilnehmer*innen aus 42 Ländern, bei der ein Forscherteam rund um Iyad Rahwan, Direktor des Forschungsbereichs Mensch und Maschine am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, weltweite Gemeinsamkeiten und Unterschiede in moralischen Entscheidungen untersuchte. Die Ergebnisse der Studie sind im Journal PNAS erschienen.
Ist es in Ordnung, einen Menschen zu opfern, um mehrere Menschen zu
retten? Diese Frage diskutieren Philosoph*innen, Ethiker*innen und
Rechtswissenschaftler*innen seit Jahrzehnten anhand eines bekannten
moralischen Gedankenexperiments: dem Trolley-Problem. Eine Straßenbahn –
auf Englisch „Trolley“ – fährt ungebremst auf fünf Gleisarbeiter*innen
zu. Der Weichensteller könnte die Straßenbahn auf ein Nebengleis
umleiten, auf dem nur ein Mensch arbeitet. Soll er den einen Menschen
opfern, um fünf Menschen zu retten?
„Im Zuge der Debatte um autonome Fahrzeuge hat das Trolley-Problem ein
Revival erfahren. Wie sollen selbstfahrende Fahrzeuge sich verhalten,
wenn ein Unfall nicht zu verhindern ist? Soll das Fahrzeug einer
Menschengruppe ausweichen und dabei den Insassen des Autos opfern?
Universelle Grundätze, an die sich Ingenieur*innen und
Programmierer*innen von autonomen Fahrzeugen halten können, gibt es
nicht“, sagt Iyad Rahwan, Direktor des Forschungsbereichs Mensch und
Maschine am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Die groß
angelegte Moral-Machine-Umfrage, die Iyad Rahwan 2017 mit seinem Team am
Massachusetts Institute of Technology durchgeführt hat, zeigte darüber
hinaus, dass Menschen je nach Kulturkreis autonome Fahrzeuge in solchen
Situation unterschiedlich programmieren würden.
Während sich frühere Studien auf Unfälle von autonomen Fahrzeugen
konzentrierten, beschäftigte sich Iyad Rahwan mit seinem Team nun mit
den klassischen Versionen des Trolley-Problems. Dies ist wichtig, da das
Trolley-Problem unter Philosoph*innen und Psycholog*innen viel besser
verstanden wird. Dazu hat das Forscherteam die Entscheidungen zu drei
Varianten des Trolley-Problems von 70.000 Teilnehmer*innen aus 42
Ländern analysiert.
Im ersten Szenario, dem klassischen Trolley-Problem, konnten die
Teilnehmer*innen die Weiche umstellen und den Waggon auf ein Nebengleis
lenken. Ein dort arbeitender Mensch stirbt, fünf Menschen auf dem
Hauptgleis sind gerettet. Im zweiten Szenario macht das Nebengleis eine
Schleife zum Hauptgleis zurück, auf dem fünf Menschen arbeiten. Das
Umstellen der Weiche führt zum Tod des auf dem Nebengleis arbeitenden
Menschen. Sein Körper verhindert, dass der Waggon auf das Hauptgleis
zurückrollt. Im Unterschied zum ersten Szenario wird der Tod des
einzelnen Menschen nicht nur in Kauf genommen, sondern ist notwendig, um
die anderen fünf zu retten. Im dritten Szenario kann ein großer Mann
von einer Fußgängerbrücke auf die Schienen gestoßen werden, wobei sein
Körper den Waggon aufhält und fünf andere Menschen rettet. Auch hier
wird der Tod des einzelnen Menschen nicht nur in Kauf genommen, sondern
ist notwendig um das Leben der anderen zu retten
Im Vergleich betrachtet, würden in allen Ländern mehr Teilnehmer*innen
einen Menschen im ersten Szenario opfern als im zweiten und am wenigsten
im dritten. Die Bereitschaft den Tod eines Menschen in Kauf zu nehmen,
um andere zu retten, ist weltweit größer, als den Tod eines Menschen zu
instrumentalisieren, wie im zweiten und dritten Szenario.
Unterschiede zwischen den Ländern gab es jedoch in der generellen
Bereitschaft, Menschen zu opfern. Im ersten Szenario würden
beispielsweise 82 Prozent der Deutschen billigen, den einzelnen Menschen
zu opfern, in den meisten westlichen Ländern sind die Werte ähnlich.
Lediglich in einigen ostasiatischen Ländern ist das Ausmaß der
Bereitschaft, einen Menschen für das Leben mehrerer zu opfern,
auffallend geringer. In China beispielsweise billigen nur 58 Prozent der
Teilnehmer*innen die Weiche im ersten Szenario umzustellen. Im dritten
Szenario weichen die Antworten zwischen den Ländern stärker voneinander
ab. So stimmen 49 Prozent der Teilnehmer*innen in Deutschland zu, den
großen Mann von der Fußgängerbrücke zu stoßen, in Vietnam sind es
hingegen 66 Prozent, in China nur 32 Prozent.
Im Vergleich mit anderen bereits erforschten Eigenarten in den Ländern
fanden die Forscher einen auffälligen Zusammenhang: In Ländern, in denen
es schwierig ist, außerhalb von traditionellen sozialen Gebilden, wie
Familie oder Beruf, neue Beziehungen zu knüpfen, ist auch die
Bereitschaft einen Menschen zu opfern geringer. Die Wissenschaftler
vermuten, dass Menschen davor zurückschrecken, kontroverse und
unpopuläre Entscheidungen zu treffen, wenn sie Angst haben, ihre
aktuellen Beziehungen zu verlieren. „Die Menschen befürchten
möglicherweise, dass sie als ‚Monster‘ wahrgenommen werden könnten, wenn
sie bereit sind, das Leben eines Menschen für das Allgemeinwohl zu
opfern. Es ist noch zu früh, um einen klaren, kausalen Zusammenhang
zwischen den kulturspezifischen, moralischen Entscheidungen der Menschen
und der Leichtigkeit, mit der sie neue Beziehungen eingehen können,
herzustellen. Es gibt jedoch vermehrt Anzeichen dafür, dass die Art und
Weise, wie das persönliche Ansehen in einer bestimmten Kultur gepflegt
wird, die moralischen Intuitionen der Menschen aus dieser Kultur
beeinflussen kann“, sagt Iyad Rahwan.
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Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung wurde 1963 in Berlin
gegründet und ist als interdisziplinäre Forschungseinrichtung dem
Studium der menschlichen Entwicklung und Bildung gewidmet. Das Institut
gehört zur Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.
V., einer der führenden Organisationen für Grundlagenforschung in
Europa.
Quellenangabe: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung – Awad, E., Dsouza, S., Shariff, A., Rahwan, I., and Bonnefon, J.-F. (2020). Universals and variations in moral decisions made in 42 countries by 70,000 participants. PNAS. https://doi.org/10.1073/pnas.1911517117