Fortschritte beim Targeting von Hirnregionen können die Forschung zur Behandlung visueller Halluzinationen bei psychiatrischen Patienten unterstützen
14.05.2022 Eine Literaturübersicht in der Harvard Review of Psychiatry zeigt, dass die transkranielle Elektrostimulation (tES) bisher nur selten zur Behandlung von visuellen Halluzinationen (VH) bei Patienten mit psychiatrischen Störungen eingesetzt wurde. Jüngste Fortschritte in der Neuroimaging-Technologie versprechen jedoch durch tES eine wirksamere Behandlung von visuellen Halluzinationen bei psychiatrischen Störungen, bei denen VH ein Kernsymptom sind.
Transkranielle Elektrostimulation
Bei der transkraniellen Elektrostimulation handelt es sich um eine nicht-invasive Hirnstimulationstechnik (NIBS), bei der ein schwacher Gleich- oder Wechselstrom über Elektroden auf der Kopfhaut abgegeben wird.
Moderne tES-Geräte sind heute mit kleineren Elektroden ausgestattet, die an mehr Stellen des Kopfes angebracht werden können und einen gezielteren Ansatz zur Beeinflussung des neuronalen Netzes ermöglichen, was die Zuverlässigkeit und Reproduzierbarkeit erhöht.
Fortschritte in der Neurobildgebung, Entwicklungen in der klinischen Neurowissenschaft wie die Identifizierung von Hirnregionen, die kausal an visuellen Halluzinationen beteiligt sind, und personalisierte NIBS-Ansätze, die das anatomische Targeting verbessern, könnten eine solide Grundlage für die weitere Forschung zum Einsatz von visuellen Halluzinationen bilden, sagt Dr. Paulo Lizano vom Beth Israel Deaconess Medical Center.
Genauere anatomische Messungen führen zu einer besseren Ausrichtung auf die Hirnareale, die die visuelle Funktion beeinflussen
Obwohl die tES nachweislich Angstzustände und bipolare Depressionen sowie auditive Halluzinationen und Kognition bei Schizophrenie verbessert, wurden nur wenige tES-Studien zu VH bei psychiatrischen Patienten oder bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen wie Parkinson-Krankheit, Lewy-Körper-Demenz, Schlaganfall, Hirntumoren, Krampfanfällen oder Migräne durchgeführt.
Gegenwärtig sind antipsychotische, antiserotonerge oder anticholinerge Medikamente die gängigste Form der Behandlung von VH bei vielen neuropsychiatrischen Störungen, doch reichen sie oft nicht aus, um die Symptome von VH zu bekämpfen.
Fallberichte und Studien
Eine Fallstudie, die Lizano und seine Mitautoren bei ihrer Überprüfung als relevant für die künftige Forschung identifizierten, betrifft eine 26-jährige Frau mit einer zehnjährigen Vorgeschichte von wiederkehrenden schweren depressiven Episoden, die täglich komplexe, belastende VH erlebte. Nachdem sie fünf Tage lang zweimal täglich mit transkranieller Gleichstromstimulation (tDCS, einer Form der tES) behandelt wurde, erlebte sie keine kontinuierlichen visuellen Halluzinationen mehr, und die aufdringlichsten Halluzinationen traten nicht mehr auf.
Ein 31-jähriger Mann mit Schizophrenie und refraktären visuellen Halluzinationen unterzog sich einer dreiwöchigen tDCS-Behandlung, die zu einem Rückgang der allgemeinen Symptome um 29 %, der positiven Symptome um 38 % und der negativen Symptome um 27 % führte.
In einer klinischen Studie mit Lewy-Body-Demenz-Patienten, die über einen Zeitraum von vier Tagen mit tDCS behandelt wurden, wurde jedoch keine Verringerung der Schwere und Dauer der visuellen Halluzinationen festgestellt.
Es ist wichtig anzumerken, dass groß angelegte klinische Studien bei Patienten mit visuellen Halluzinationen noch nicht durchgeführt wurden.
Vielversprechendes Potenzial
Trotz des Mangels an Studien in der Forschungsliteratur deuten die jüngsten Fortschritte in der Neurobildgebung darauf hin, dass künftige Studien einen kausalen Zusammenhang zwischen tES und VH-Behandlung aufzeigen können. Verbesserungen bei der kopfhautbasierten Zielerfassung bieten Potenzial für die Anwendung in NIBS-Studien mit visuellen Halluzinationen. Studien zur Kartierung von Läsionsnetzwerken (LNM), die speziell Ziele im visuellen Kortex identifizieren, könnten ebenfalls hilfreich sein.
Darüber hinaus sind individualisierte Modellierungstechniken und die fortgeschrittene Modellierung elektrischer Felder, obwohl sie noch in den Kinderschuhen stecken, ein logischer nächster Schritt für größere tES-Untersuchungen, die auf Hirnregionen abzielen, die bei psychiatrischen Patienten mit visuellen Halluzinationen in Verbindung stehen. Andere vielversprechende tES-Techniken umfassen die Modulation der Netzhaut oder des Sehnervs.
Diese Techniken, kombiniert mit aussagekräftigen klinischen Interviews und Simulationen von Verhaltens-, sensorischen und kognitiven Aufgaben, könnten einen „einzigartigen multimodalen Neuroimaging-NIBS-Ansatz“ für anatomisches Targeting schaffen, der die Beeinflussung der visuellen Aktivität durch Forscher verbessern und eine wirksamere Behandlung für psychiatrische Patienten mit visuellen Halluzinationen ermöglichen kann, schließen die Studienautoren.
© Psylex.de – Quellenangabe: Harvard Review of Psychiatry (2022). DOI: 10.1097/HRP.0000000000000336