Warum träumen wir? Belege für eine emotionale Anpassungsfunktion von Träumen: eine kulturübergreifende Studie
16.10.2023 Warum träumen wir? Als Produkt der Neurophysiologie unseres Gehirns ist das Träumen eine komplexe Erfahrung, die viele emotionale Aspekte umfassen und die Realität in unterschiedlichem Maße simulieren kann. Daher gibt es noch immer keine klare Antwort auf diese Frage.
In einer Studie unter der Leitung der Universitäten Genf (UNIGE) und Toronto sowie der Genfer Universitätskliniken (HUG) wurden die Träume von zwei Sammlergemeinschaften in Tansania und der Demokratischen Republik Kongo mit denen von Menschen in Europa und Nordamerika verglichen. Es zeigte sich, dass die ersten beiden Gruppen bedrohlichere, aber auch kathartischere und sozialere Träume hatten als die westlichen Gruppen.
Diese in Scientific Reports veröffentlichten Ergebnisse zeigen, wie stark der Zusammenhang zwischen dem soziokulturellen Umfeld und der Funktion von Träumen ist.
Träumen ist eine halluzinatorische Erfahrung, die allen Menschen gemeinsam ist. Sie treten am häufigsten während der paradoxen Phase des Schlafs auf, der sogenannten REM-Phase (Rapid Eye Movement). Sie können jedoch in jedem Schlafstadium auftreten. Welche physiologischen, emotionalen oder kulturellen Funktionen haben Träume? Regulieren sie unsere Emotionen? Bereiten sie uns auf die Bewältigung einer bestimmten Situation vor? Jüngste Theorien legen nahe, dass der Mensch während eines „funktionalen“ Traums bedrohlichere und/oder soziale Situationen simuliert, was einen evolutionären Vorteil bei der Förderung eines angepassten Verhaltens in realen Situationen darstellen würde.
Das Traumgeschehen unterscheidet sich je nach Umgebung und untersuchter Bevölkerung
Um diese Theorien zu überprüfen, verglichen Forscher der UNIGE und der Universität Toronto den Inhalt der Träume der BaYaka in der Demokratischen Republik Kongo und der Hadza in Tansania – zwei Gemeinschaften, deren Lebensweise der unserer Jäger- und Sammlervorfahren sehr ähnlich ist – mit dem verschiedener in Europa und Nordamerika (Schweiz, Belgien, Kanada) lebender Personengruppen, darunter gesunde Teilnehmer und Patienten mit psychiatrischen Störungen.
Die Träume der BaYaka und Hadza wurden von Anthropologen der Universität Toronto über einen Zeitraum von zwei Monaten im Feld gesammelt. Die Daten zu den Träumen der westlichen Gruppen stammen aus früheren Studien, die zwischen 2014 und 2022 veröffentlicht wurden.
„Wir haben festgestellt, dass die Träume der BaYaka und Hadza sehr dynamisch sind. Sie beginnen oft mit einer Gefahrensituation, in der das Leben bedroht ist, enden aber mit der Inszenierung eines Mittels zur Bewältigung dieser Bedrohung, im Gegensatz zu den Szenarien in den westlichen Gruppen, die wir beobachtet haben“, erklärt Studienleiter Lampros Perogamvros.
„Andererseits sind die Träume in klinischen Populationen – wie etwa bei Patienten mit Albträumen oder sozialen Ängsten – intensiv, enthalten aber keine kathartische emotionale Auflösung. In diesen letzteren Gruppen scheint die adaptive Funktion des Träumens unzureichend zu sein.“
Ein Spiegel des sozialen Gefüges
Unter den von indigenen Menschen verfügbaren Reaktionen auf eine Bedrohung in ihren Träumen fanden die Forscher heraus, dass diejenigen, die mit sozialer Unterstützung verbunden sind, sehr häufig sind. Dies ist z. B. der Fall, wenn ein Indigener von einem Traum berichtet, in dem er mitten im Busch von einem Büffel angefallen wird, um dann von einem Mitglied seiner Gemeinschaft gerettet zu werden. Oder wenn ein anderer träumt, dass er in einen Brunnen fällt und einer seiner Freunde ihm heraushilft. Diese Träume enthalten ihre eigene emotionale Auflösung.
„Bei den BaYaka und Hadza sind die sozialen Bindungen, die sie haben, zwangsläufig sehr stark. Im Vergleich zu den eher individualistischen Gesellschaften in Europa und Nordamerika sind das tägliche Leben und die Arbeitsteilung in der Regel egalitärer. Es scheint, dass diese Art von sozialer Bindung und das Vertrauen in die Gemeinschaft bedeutet, dass sie die emotionalen Inhalte, die mit der Bedrohung in ihren Träumen verbunden sind, am besten über ihre sozialen Beziehungen verarbeiten können. Diese Beziehungen sind in der Tat die emotionalen Werkzeuge, mit denen sie die Herausforderungen des Lebens verarbeiten“, erklärt Studienautor David Samson. Das Forscherteam geht daher davon aus, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Funktion von Träumen und den gesellschaftlichen Normen und Werten der jeweils untersuchten Gesellschaft gibt.
„Es ist jedoch schwierig, in dieser Studie einen kausalen Zusammenhang zwischen den Träumen und dem Tagesablauf abzuleiten. Wir sollten auch nicht den Schluss ziehen, dass Träume in Gruppen westlicher Menschen keine emotionale Funktion haben“, fügt Perogamvros hinzu. Tatsächlich veröffentlichte dasselbe Forscherteam 2019 eine Studie, wonach „schlechte Träume“ bei westlichen Menschen, d. h. Träume mit negativem Inhalt (die keine Albträume sind) oft Simulationen unserer Ängste sind, die uns darauf vorbereiten, uns ihnen zu stellen, sobald wir wach sind.
„Es scheint mehr als eine Art von ‚funktionalen‘ Träumen zu geben. Die vorliegende Studie zeigt, dass es eine starke Verbindung zwischen unserem soziokulturellen Leben und der Funktion von Träumen gibt“, so der Forscher abschließend.
© Psylex.de – Quellenangabe: Scientific Reports (2023). DOI: 10.1038/s41598-023-43319-z
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