Die Gehirnwellen bei Entstehung und Abruf von Erinnerungen

Wandernde Gehirnwellen bewegen sich in eine Richtung, wenn Erinnerungen entstehen, und in die entgegengesetzte, wenn sie abgerufen werden

Die Gehirnwellen bei Entstehung und Abruf von Erinnerungen

09.03.2024 In nur wenigen Sekunden kann eine Person, die einen Häuserblock entlangläuft, ihr Telefon überprüfen, gähnen, sich Sorgen um die Miete machen und ihren Weg anpassen, um eine Pfütze zu umgehen. Der Geruch eines Imbisswagens könnte plötzlich eine Erinnerung aus der Kindheit wachrufen, oder sie könnte eine Ratte bemerken, die ein Stück Pizza isst, und das Bild als neue Erinnerung speichern.

Für die meisten Menschen ist der schnelle und nahtlose Wechsel zwischen verschiedenen Verhaltensweisen ein alltäglicher Vorgang.

Für Neurowissenschaftler ist dies eine der bemerkenswertesten Fähigkeiten des Gehirns. Das liegt daran, dass das Gehirn bei verschiedenen Aktivitäten unterschiedliche Kombinationen seiner vielen Regionen und Milliarden von Neuronen nutzen muss. Wie es das so schnell schafft, ist seit Jahrzehnten eine offene Frage.

In einer in der Zeitschrift Nature Human Behaviour veröffentlichten Arbeit hat ein Forscherteam unter der Leitung von Joshua Jacobs, außerordentlicher Professor für Biomedizintechnik an der Columbia Engineering, diese Frage neu beleuchtet. Durch sorgfältige Beobachtung der neuronalen Aktivität von Menschen, die Erinnerungen abrufen oder neue bilden, konnten die Forscher feststellen, wie eine seit kurzem bekannte Art von Gehirnwellen – wandernde Wellen – die Speicherung und den Abruf von Erinnerungen beeinflusst.

Richtungen der Wellenwanderungen

„Im Großen und Ganzen fanden wir heraus, dass sich die Wellen tendenziell von der Rückseite des Gehirns nach vorne bewegten, während die Patienten etwas in ihr Gedächtnis einspeicherten“, sagte die Mitautorin der Studie Uma R. Mohan.

Wenn die Patienten später versuchten, die gleichen Informationen abzurufen, bewegten sich diese Wellen in die entgegengesetzte Richtung, von der Vorderseite zur Rückseite des Gehirns, sagte sie.

In den Gehirnen einiger der 93 Studienteilnehmer wanderten die Wellen in andere Richtungen.

Gehirnwellen

Gehirnwellen sind Muster elektrischer Schwingungen, die den Zustand von Hunderten oder Tausenden einzelner Neuronen zu einem bestimmten Zeitpunkt widerspiegeln. Eine wichtige noch ungeklärte Frage ist, ob Hirnströme die Aktivität antreiben oder einfach als Nebenprodukt einer bereits stattfindenden neuronalen Aktivität auftreten. Bei der Untersuchung von Hirnströmen neigen Forscher dazu, sie als ein stationäres Phänomen zu betrachten, das in einer bestimmten Region auftritt, und sie stellen dabei fest, dass die Oszillationen in mehreren Regionen synchron zu sein scheinen.

In dieser Studie tragen Mohan und Kollegen zu einem wachsenden Verständnis dieser Oszillationen auf andere Weise bei, nämlich als „wandernde Wellen“, die sich über den Kortex des Gehirns ausbreiten, die äußerste Schicht, die die höhere kognitive Verarbeitung unterstützt. Mohan vergleicht die wandernden Wellen mit den Wellen, die sich ausbreiten, nachdem ein Kieselstein in einen Teich geworfen wurde.

Neuronale Oszillationen

„Wir betrachten neuronale Oszillationen nicht als unabhängige, stationäre Dinge, sondern als Dinge, die sich ständig und spontan auf dynamische Weise durch das Gehirn bewegen“, so Mohan.

Diese relativ neue Art des Verständnisses von Gehirnwellen ist ein spannender Schritt in der Neurowissenschaft, da sie einen Weg zur Erklärung bietet, wie das Gehirn Aktivitäten schnell koordiniert und Informationen über mehrere Regionen hinweg austauscht.

Die Studie

Die Studie stützte sich auf Daten von Teilnehmern, die in Krankenhäusern in den Vereinigten Staaten wegen medikamentenresistenter Epilepsie behandelt wurden. Bei den Experimenten wurden den Teilnehmern Gitter oder Streifen von Elektroden vorübergehend auf der Oberfläche des Gehirns unter dem Schädel implantiert, um festzustellen, wo die Anfälle der Patienten entstehen. Für die Forscher bieten diese Elektroden die Möglichkeit, Experimente durchzuführen, die sonst nicht durchführbar wären.

Während der Experimente zeichneten die Forscher die Gehirnaktivität der Teilnehmer auf, während sie Aufgaben ausführten, bei denen sie sich Listen von Wörtern oder Buchstaben merken und abrufen mussten.

Nach den Experimenten analysierten die Forscher die Gehirnaktivität jedes Teilnehmers im Zusammenhang mit der Gedächtnisaufgabe und ihrer Leistung.

„Ich habe eine Methode entwickelt, um Wellen, die sich in eine Richtung bewegen, grundsätzlich als „gut für die Speicherung von etwas“ zu kennzeichnen. Dann konnten wir sehen, wie sich die Richtung im Laufe der Aufgabe änderte“, sagte Mohan.

„Die Wellen tendierten dazu, in die Kodierungsrichtung des Teilnehmers zu laufen, wenn dieser etwas in sein Gedächtnis einspeicherte, und in die entgegengesetzte Richtung, kurz bevor er sich an das Wort erinnerte“, sagte sie. „Insgesamt stellt diese neue Arbeit eine Verbindung zwischen Wanderwellen und Verhalten her, indem sie zeigt, dass sich Wanderwellen für verschiedene Gedächtnisprozesse in unterschiedliche Richtungen über den Kortex ausbreiten.“

Weiterhin neigten die Probanden laut den Daten dazu, die Gedächtnisaufgabe genauer auszuführen, wenn sich die wandernden Wellen in die entsprechende Richtung für die Speicherung und den Abruf des Gedächtnisses bewegte.

Mögliche Auswirkungen und zukünftige Richtungen

Da die wandernden Wellen immer besser erforscht werden, könnten sie die Grundlage für eine neue Klasse von Diagnoseinstrumenten bilden, die abnormale Muster in der Gehirnaktivität erkennen.

Es besteht auch ein erhebliches therapeutisches Potenzial. „Wenn sich die Wellen einer Person in die falsche Richtung bewegen, während sie versucht, sich an etwas zu erinnern, könnte dies zu einem schlechten Gedächtnisabruf führen“, erklärt Mohan. „Wenn man die Stimulation auf die richtige Art und Weise anwendet, kann man diese Wellen vielleicht dazu bringen, sich in eine andere Richtung zu bewegen, was zu einem grundlegend anderen Gedächtniszustand führt.“

© Psylex.de – Quellenangabe: Nature Human Behaviour – DOI: 10.1038/s41562-024-01838-3.

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