Zwangsstörungen und das Gehirn

Neue neuronale Erkenntnisse über die Verarbeitung von Ungewissheit im Gehirn bei Zwangsstörungen

Zwangsstörungen und das Gehirn

13.09.2023 Die Zwangsstörung ist eine neurologische Erkrankung, die durch wiederholte Verhaltensweisen wie Putzen und Kontrollieren trotz eindeutiger objektiver Hinweise auf Sauberkeit, Ordnung und Korrektheit gekennzeichnet ist.

Obwohl die Krankheit oft fälschlicherweise als eine Störung der „fussiness“ (Ordentlichkeit, Pingeligkeit) beschrieben wird, ist sie in Wirklichkeit auf Probleme bei der Verarbeitung von Unsicherheit zurückzuführen, schreiben die Studienautoren. Die neuronalen Grundlagen dieser abweichenden Verarbeitung sind jedoch nach wie vor unbekannt.

Eine neue Studie in der Zeitschrift Biological Psychiatry: Cognitive Neuroscience and Neuroimaging veröffentlichte Studie nutzt Gehirn-Bildgebungsverfahren, um einen genaueren Blick auf die Grundlagen der Verarbeitung von Unsicherheit bei Zwangsstörungen zu werfen.

Die Studie

Die Autoren unter der Leitung von Dr. Valerie Voon von der Universität Cambridge untersuchten eine Gruppe von Patienten mit Zwangsstörungen, eine weitere Gruppe von Patienten mit schweren Zwangsstörungen, die sich einem therapeutischen chirurgischen Eingriff, der sogenannten Kapsulotomie, unterzogen hatten, von dem man annimmt, dass er die mit Zwangsstörungen zusammenhängende Hirnaktivität verringert, sowie gesunde Kontrollpersonen. Neben der Untersuchung der Gehirnverarbeitung bei Zwangsstörungen wollten die Forscher auch die Auswirkungen der Kapsulotomie auf die Gehirnverarbeitung untersuchen.

Voon erklärt: „Wir verwendeten eine einfache Kartenspielaufgabe, wie sie bei Trinkspielen üblich ist. Die Teilnehmer, die eine offene Karte vor sich hatten, wetteten darauf, dass die nächste Karte höher oder niedriger sein würde als die offene Karte. Bei den Extremen, d. h. bei hohen oder niedrigen offenen Karten, ist die Gewissheit groß, aber die Unsicherheit war bei Karten in der Mitte des Decks viel größer.“

Abweichende Aktivität im, während sie Gewissheit suchten

Bei den Experimenten mit funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRI) konzentrierten sich die Forscher auf Gehirnbereiche, die bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen, nämlich den dorsalen anterioren cingulären Kortex (dACC) und die anteriore Insula (AI). Teilnehmer mit Zwangsstörungen zeigten im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen eine abweichende Aktivität in diesen Bereichen, während sie Gewissheit suchten.

Voon sagt: „Entscheidend ist, dass Patienten mit Zwangserkrankungen eine langsamere Entscheidungsfindung zeigten, aber nur, wenn die Ergebnisse sicherer waren. Da diese Beeinträchtigungen sowohl bei den Patienten mit Zwangsstörung als auch bei denjenigen auftraten, bei denen sich die Situation nach der Kapsulotomie gebessert hatte, deutet dies darauf hin, dass dieser kognitive Mechanismus ein zentrales Merkmal sein könnte, das der Entwicklung von Zwangserkrankungen zugrunde liegt, unabhängig davon, wie schwer die Symptome sind“.

Voon fügte hinzu: „Die Bildgebungsdaten könnten eine Vorstellung davon vermitteln, wie Zwangspatienten mit ihren Symptomen zu kämpfen haben könnten. Während gesunde Menschen in der Lage sind, zu sagen: ‚Das ist sauber‘ und mit dem Putzen aufzuhören, haben Menschen mit Zwangsstörungen möglicherweise Probleme mit diesem Gefühl der Sicherheit und verbringen vielleicht mehr Zeit damit, sich zu fragen: Ist das immer noch ein bisschen schmutzig, oder ist es sauber genug?“

Die Ergebnisse machen deutlich, dass es sich bei der Zwangsstörung nicht um eine Störung eines übermäßigen Drangs zur Sauberkeit oder Ordnung handelt, sondern um eine gestörte Verarbeitung von Gewissheit im Gehirn.

© Psylex.de – Quellenangabe: Biological Psychiatry: Cognitive Neuroscience and Neuroimaging (2023). DOI: 10.1016/j.bpsc.2023.05.011

News zu Zwangsstörungen und das Gehirn

Schlechtere Konnektivität in bestimmten Hirnregionen bei Zwangserkrankungen

Warum Expositionstherapie bei Zwangsstörungen oft nur kurzfristig wirkt,
und wie es zu den Wiederholungen im Verhalten kommt.

09.03.2017 Störungen der Lernvorgänge im Gehirn: Menschen mit Zwangsstörungen scheinen schlechter zu lernen, wann ein Stimulus sicher ist, weshalb sie es so schwer haben, ihre Zwangsgedanken bzw. das obsessive Verhalten zu überwinden laut den Befunden zweier Hirnstudien der Universität Cambridge.

Warum Exposition langfristig nicht wirkt

Die sogenannte ‚Expositions- oder Konfrontationstherapie‚ hat häufig nur einen begrenzten Erfolg bei der Behandlung von Zwangsstörungen und die obsessiven Gedanken kehren oft in Zeiten des Stresses wieder zurück. Eine aktuelle in Proceedings of the National Academy of Sciences veöffentlichte Studie könnte erklären, warum die Erinnerungen an die Sicherheit von Stimuli nicht beständig sind.

Die Gehirne von 43 Patienten mit Zwangserkrankungen und 35 gesunden Teilnehmern wurden mit fMRT gescannt, während den Probanden nacheinander zwei Gesichter gezeigt wurden: ein rotes oder ein grünes Gesicht: Beim roten Gesicht geschah nichts, beim grünen erhielten die Teilnehmer einen leichten Elektroschock.

Durch die Messung von Hautwiderstand und der Schweißmenge konnten die Forscher feststellen, ob die Probanden gelernt hatten, welcher Reiz sicher und welcher bedrohlich ist.

Nach einiger Zeit tauschten die Forscher die Stimuli aus – nun wurde beim roten Gesicht ein Stromschlag verabreicht, während das grüne Gesicht sicher war.

Sichere Stimuli wurden nicht gelernt

Die Patienten mit einer Zwangsstörung lernten zwar anfangs welcher Stimulus bedrohlich, sie lernten aber nicht, dass der zweite Reiz sicher war – tatsächlich schienen sie diesem sicheren Stimulus nur wenig Aufmerksamkeit zu schenken.

Als die Stimuli umgekehrt wurden, waren die Teilnehmer nicht in der Lage, zwischen dem vorher bedrohlichen Stimulus und dem neuen bedrohlichen Reiz zu unterscheiden.

Ventromedialer präfrontaler Cortex

Das spiegelte sich auch in ihrer Gehirnaktivität wider: Patienten mit Zwangserkrankung zeigten ein niedrigeres Aktivitätsniveau in einer Region des Gehirns, die als ventromedialer präfrontaler Cortex bekannt ist, während sie den sicheren Stimulus ansahen.

Etwas läuft schief im zwangsgestörten Gehirn, wenn es lernt, was sicher ist. Und dies beeinflusst, wie es Bedrohungen unter neuen Bedingungen wahrnimmt, sagte Studienautorin Dr. Annemieke Apergis-Schoute. Dies sollte bei der Entwicklung von zukünftigen Therapien berücksichtigt werden.

Kognitive Inflexibilität

Die aktuellen Konfrontationsbehandlungen können dem Patienten helfen, die Kontrolle über ihre Zwänge zu übernehmen, aber diese Befunde legen nahe: Die Patienten lernen nicht, dass ihre Zwänge unnötig sind. Und sie können in stressenden Phasen erneut auftreten.

In einer zweiten in Biological Psychiatry veröffentlichten Studie zeigten die Forscher aus Cambridge, dass diese kognitive Inflexibilität teilweise ein Ergebnis eines Kommunikationsmangels zwischen bestimmten Gehirnregionen sein könnte.

Gestörte Kommunikation zwischen Gehirnregionen

Sie fanden eine schlechtere Konnektivität innerhalb einiger Schlüsselnetzwerke im Gehirn, die für die fehlende Flexibiltät und auch die schlechten zielgerichteten Fähigkeiten von zwangsgestörten Menschen verantwortlich sein könnte.

Die Forscher fanden eine gestörte Konnektivität innerhalb diskreter frontostriataler Nervenbahnen – neuronale Bahnen, die die Vorderseite des Gehirns mit den Basalganglien (verantwortlich für wichtige Funktionen wie die Kontrolle der Bewegung und ‚Exekutivfunktionen‘ wie Entscheidungsfindung, Lernen und die Gewohnheitsbildung) verbinden.

Sie nehmen an, dass diese dem repetitiven Verhalten bei Zwangsstörungen zugrunde liegen könnten.

© PSYLEX.de – Quellenangabe: Universität Cambridge, Proceedings of the National Academy of Sciences – DOI: 10.1073/pnas.1609194114, Biological Psychiatry – DOI: 10.1016/j.biopsych.2016.08.009; März 2017

In der Fehlerschleife gefangen: Gehirnstudie zeigt Wurzeln der Zwangsstörung

03.12.2018 Eine im Fachblatt Biological Psychiatry veröffentlichte Studie untersuchte funktionelle Hirnscans und anderen Daten aus der Forschung zu Zwangserkrankungen, und kombinierten sie für eine neue Metaanalyse, um herauszufinden, was in den Gehirnen von Menschen mit krankhaften Zwängen falsch läuft.

Die Ergebnisse zeigen, dass das Gehirn bei der Zwangsstörung zu sehr auf Fehler anspricht und zu wenig darauf, Signale zu stoppen. Dies sind bereits zuvor entdeckte Anomalien bei pathologischen Zwängen, die aber aufgrund der geringen Anzahl von Teilnehmern in den einzelnen Studien nicht eindeutig belegt werden konnten, sagt Luke Norman vom Fachbereich Psychiatrie der Universität Michigan.

Durch die Kombination von Daten aus zehn Studien von fast 500 Patienten und gesunden Freiwilligen konnten die Psychiater entdecken, wie Gehirnnetze, die lange Zeit als entscheidend für Zwangsstörungen angesehen wurden, tatsächlich an der Erkrankung beteiligt sind.

Cingulo-operculare Netzwerk

In ihrer Arbeit konzentrieren sich die Forscher auf das cingulo-operculare Netzwerk. Das ist eine Sammlung von Hirnarealen, die durch ‚Autobahnen‘ von Nervenverbindungen tief im Zentrum des Gehirns verbunden sind.

Es fungiert normalerweise als Überwachungssystem für Fehler oder die potenzielle Notwendigkeit, eine Aktion zu stoppen, und bezieht die Entscheidungsbereiche an der Vorderseite des Gehirns ein, wenn es spürt, dass etwas „off“ ist.

Gefangen in der Fehlerschleife

Aus den kombinierten Daten entstand ein durchgängiges Muster: Im Vergleich zu gesunden Probanden hatten zwangsgestörte Teilnehmer viel mehr Aktivität in den spezifischen Gehirnarealen, die daran beteiligt waren, zu erkennen, dass sie einen Fehler machten, aber weniger Aktivität in den Bereichen, die ihnen helfen konnten, aufzuhören.

Die Wissenschaftler nehmen an, dass Zwangsstörungspatienten eine „ineffiziente“ Verknüpfung zwischen dem Gehirnsystem, das ihre Fähigkeit zur Fehlererkennung verbindet, und dem System, das ihre Fähigkeit zur Beseitigung dieser Fehler regelt, haben könnten. Das könnte dazu führen, dass ihre Überreaktion auf Fehler ihre unzureichende Fähigkeit, sich selbst zu sagen, dass sie aufhören sollen, überwältigt.

Die Studie kann aber nicht sagen, ob die Unterschiede in der Gehirnaktivität die Ursache oder die Wirkung der Zwangserkrankungen sind.

© PSYLEX.de – Quellenangabe: Biological Psychiatry, 2018; 83 (9): S354 DOI: 10.1016/j.biopsych.2018.02.911

Veränderungen der Gehirnvernetzung bei Zwangserkrankten

03.03.2019 Die Zwangsstörung ist durch Veränderungen in der Gehirnvernetzung gekennzeichnet, d.h. Patienten weisen eine Dysfunktion auf, die mit der Synchronisation der Aktivität zwischen verschiedenen Gruppen von Neuronen im Gehirn zusammenhängt, wie jüngste in der Zeitschrift Cerebral Cortex veröffentlichte Forschungsergebnisse zeigen.

Die Neurowissenschaftler sagen, dass sich die Dysfunktion der Konnektivität zwischen den einzelnen kortikalen Regionen bevorzugt in Bezug auf Neuronencluster in unterschiedlichen Abständen manifestiert.

So zeigten beispielsweise Patienten mit Zwangserkrankungen eine Abnahme der Vernetzung zwischen dem vordersten Teil des orbitofrontalen Cortex und Regionen ihrer unmittelbaren Umgebung, während der hintere Teil desselben Cortex eine Abnahme der Verbindung mit entfernteren Cortizen zeigte.

Erklärung für intrusive Gedanken

Ebenso konnte nachgewiesen werden, dass alle primären sensorischen Hirnrinden (somatosensorische, visuelle, auditorische, gustatorische und olfaktorische) eine Abnahme der Konnektivität mit nahen und fernen neuronalen Gruppen aufwiesen.

Diese Tatsache könnte das Vorhandensein von aufdringlichen, unerwünschten (intrusiven) Gedanken bei Zwangserkrankten als Folge einer ineffizienten sensorischen Filterung erklären, die irrelevante Reize nicht ausschließen würde, schreiben die Forscher um Jesus Pujol und Carles Soriano-Mas.

Defizitäres hemmendes Interneuronensystem im Gehirn

Die Ergebnisse dieser Studie legen nahe, dass die Zwangsstörung durch ein defizitäres hemmendes Interneuronensystem im Gehirn gekennzeichnet ist, das zu Diskrepanzen bei der Synchronisation der neuronalen Aktivität in verschiedenen Entfernungsskalen führen kann.

Für die Studie wurden 160 erwachsene Patienten mit Zwangsstörung aus der Obsessive Compulsive Disorder Unit des Bellvitge Universitätshospital (Barcelona) rekrutiert, nachdem sie mindestens ein Jahr vor der Studie mit der Störung diagnostiziert worden waren.

© PSYLEX.de – Quellenangabe: Cerebral Cortex (2019). DOI: 10.1093/cercor/bhz008

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