Selbstdiskrepanz – ideales Selbst

Selbstdiskrepanz – ideales Selbst

Persönlichkeitspsychologie

Das quälende Bedauern über das Scheitern unseres Ideal-Selbst

30.05.2018 Aufgegebene Träume. Die (vermeintliche) Liebe des Lebens nicht angesprochen. Die Sicherung eines Arbeitsplatzes in der Nähe des Heims statt einer aufregenden Position im Ausland.

Unser anhaltendstes Bedauern gilt unserem Versagen, unsere Wünsche zu leben – also unser ideales Selbst nicht zu leben – laut einer in der Zeitschrift Emotion veröffentlichten Studie.

Tom Gilovich und Shai Davidai vom Fachbereich Psychologie der Cornell Universität haben festgestellt, dass die Menschen mehr von ihrem Bedauern darüber heimgesucht werden, dass sie ihre Hoffnungen, Ziele und Bestrebungen nicht erreichen, als von ihrem Bedauern darüber, dass sie ihre Pflichten, Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten nicht erfüllen.

Selbstdiskrepanz-Theorie

traurige Frau
Bild: iWorksphotography Gary Ross

Die Studie baut auf der Annahme der Selbstdiskrepanz-Theorie auf, dass drei Elemente das Selbstverständnis eines Menschen ausmachen: das eigentliche (aktuelle bzw. gegenwärtige), das ideale und das geforderte bzw. Soll-Selbst.

Das gegenwärtige Selbst besteht aus den Attributen, die eine Person zu besitzen glaubt.

Das ideale Selbst sind die Eigenschaften, die sie idealerweise besitzen möchte, wie Hoffnungen, Ziele, Sehnsüchte oder Wünsche.

Das Soll-Selbst ist die Person, von der sie glaubt, dass Pflichten (soziale Erwartungen und Normen), Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten es von ihr fordern.

Diskrepanz zwischen gefordertem und Ideal-Selbst

Gilovich und Davidai befragten im Laufe von sechs Studien hunderte von Teilnehmern, um die Selbstdiskrepanz – also die Diskrepanz (Unterschiede) zwischen dem geforderten und dem Ideal-Selbst – zu beschreiben. Die Psychologen baten sie, ihr Bedauern anhand dieser Beschreibungen aufzulisten und zu kategorisieren.

Die Teilnehmer gaben an, dass sie ihr ideales Selbst viel häufiger bereuten (72 Prozent gegenüber 28 Prozent). Mehr als die Hälfte nannte häufiger Ideal-Selbst-Bedauern als Soll-Selbst-Reue bei der Auflistung ihres Bedauerns im Leben.

Und als sie gebeten wurden, ihr größtes Bedauern im Leben zu benennen, nannten 76 Prozent der Teilnehmer ein Bedauern darüber, ihr ideales Selbst nicht erfüllt zu haben.

Nichterreichen des Ideal-Selbst

Warum verursacht das Nichterreichen des Ideal-Selbst so anhaltendes Bedauern? Die Erwartungen des Soll-Selbst sind meist konkreter und beinhalten bestimmte Regeln – wie z.B. das Verhalten bei einer Beerdigung – und sind damit leichter zu erreichen. Aber idealbezogene Reue ist eher allgemeiner Natur: Sei ein guter Elternteil, sei ein guter Lehrer.

Nun, was bedeutet das wirklich, fragt Gilovich.

Es gibt keine klaren Wegweiser bzw. Regeln. Und man kann immer noch mehr tun / erreichen.

Rolle der Inspiration

Diese Forschung zur Selbstdiskrepanz hat praktische Auswirkungen, sagte er. Erstens gehen wir oft davon aus, dass wir zuerst Inspiration brauchen, bevor wir unsere Ideale erreichen können. Aber einige psychologische Forschungsarbeiten zeigen, dass das nicht zutreffend ist, sagte Gilovich.

Wie der Slogan sagt: ‚Tu es einfach‘, sagte er. Warte nicht auf Inspiration, tauche einfach ein. Auf Inspiration zu warten, ist nur eine Entschuldigung. Inspiration entsteht durch die Beschäftigung mit der Tätigkeit.

Und die Menschen erreichen ihre idealen Ziele oft nicht, weil sie sich Gedanken und Sorgen darüber machen, was andere davon halten könnten.

Tu es einfach

Zum Beispiel, wenn jemand lernen möchte, wie man singt, aber das Gefühl hat, er/sie könnte es nicht ertragen, dass andere hören, wie schlecht er/sie.

Wieder sagt Gilovich, tu es einfach.

Die Menschen seien gutmütiger als wir denken und würden uns auch nicht annähernd in dem Maße bemerken, wie wir glauben.

Wenn es das ist, was einen zurückhält sein ideales Selbst zu verwirklichen – die Angst davor, was andere Leute denken und sagen werden – dann sollte man es erst recht tun, schließt der Psychologe.

© PSYLEX.de – Quellenangabe: Emotion – http://dx.doi.org/10.1037/emo0000326

Grübeln beeinflusst selektiv die Verbindung zwischen tatsächlichem Ideal (aber nicht tatsächlicher) Selbstdiskrepanz und Angst- / depressiven Symptomen

21.06.2019 Eine in Personality and Individual Differences publizierte Studie zeigt, dass es nicht das Versagen bei der Entwicklung unseres „Ideal-Selbst“ ist, das psychologischen Distress hervorruft, sondern vielmehr das negative Grübeln darüber, das zu psychischen Problemen führt.

Mit anderen Worten, es lohnt sich, freundlich zu sich selbst zu sein, schreiben die Wissenschaftler um Joanne M. Dickson vom Fachbereich Psychologie der Edith Cowan University.

Die Studie untersuchte, ob Diskrepanzen zwischen dem Idealselbst und dem „tatsächlichen Selbst“ mit depressiven und ängstlichen Symptomen verbunden sind, und welchen Einfluss das Grübeln dabei hat.

Definition von Idealselbst

Es gibt zwei Faktoren, die bei diesen Beziehungen eine Rolle spielen: „das Ideal-Selbst“ und das „Soll-Selbst“.

Das „ideale Selbst“ ist die Person, die wir im Idealfall sein wollen – unsere Hoffnungen und Bestrebungen. Das „Soll-Selbst“ ist derjenige, von dem wir glauben, dass wir es sein sollten – unsere Pflichten, Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten, definiert Dickson.

Psychische Belastung

Die Ergebnisse zeigten, wenn die Wahrnehmung der eigenen Hoffnungen und Wünsche als unerfüllt empfunden wird, verstärken der Verlust der gewünschten positiven Ergebnisse die emotionale Verletzlichkeit und psychische Belastung (Distress).

Soll-Selbst-Diskrepanzen waren in der Studie mit Angst verbunden (jedoch nicht mit Depressionen), schreibt die Psychologin.

Grübeln: Die Rolle des übermäßigen negativen Denkens

Ein neuartiger Befund ist die Rolle des Grübelns, der Tendenz, wiederholt negativ zu denken.

Es zeigte sich, dass nicht der fehlende Fortschritt in Bezug auf das Erreichen unseres Idealselbst die psychischen Probleme verursacht, sondern die Tendenz, immer wieder über diesen Mangel an Fortschritt nachzudenken, was zu einer erhöhten psychischen Belastung führt, sagt sie.

Im Gegensatz dazu erhöhe der Mangel an Fortschritt in Bezug auf unser „Soll-Selbst“ (d.h. Pflichten, Verantwortlichkeiten, Verpflichtungen) direkt die Angst (aber nicht die Depression), und dies wurde nicht durch Grübeln unterstützt.

Den Fokus auf negative Selbstbewertung und Selbstkritik zu richten, ist also kontraproduktiv, schließen die Psychologen.

© PSYLEX.de – Quellenangabe: Personality and Individual Differences – DOI: 10.1016/j.paid.2019.05.047

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