Unser Gehirn ist eine Prognosemaschine, die immer aktiv ist

Eine Hierarchie linguistischer Vorhersagen beim Verstehen natürlicher Sprache

Unser Gehirn ist eine Prognosemaschine, die immer aktiv ist

05.08.2022 Unser Gehirn arbeitet ähnlich wie die Autovervollständigungsfunktion Ihres Telefons – es versucht ständig, das nächste Wort zu erraten, wenn wir einem Buch zuhören, lesen oder ein Gespräch führen. Im Gegensatz zu Spracherkennungscomputern macht unser Gehirn ständig Vorhersagen auf verschiedenen Ebenen, von der Bedeutung und Grammatik bis hin zu bestimmten Sprachlauten.

Das haben Forscher des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik und des Donders-Instituts der Universität Radboud in einer neuen Studie herausgefunden. Ihre Ergebnisse wurden in der Zeitschrift PNAS veröffentlicht.

Dies steht im Einklang mit einer neueren Theorie über die Funktionsweise unseres Gehirns: Es ist eine Prognosemaschine, die ständig aufgenommene sensorische Informationen (wie Bilder, Töne und Sprache) mit internen Prognosen vergleicht. „Diese theoretische Idee ist in den Neurowissenschaften sehr populär, aber die vorhandenen Belege dafür sind oft indirekt und auf künstliche Situationen beschränkt“, sagt Hauptautor Micha Heilbron.

Die Hirnforschung zu diesem Phänomen findet in der Regel in einer künstlichen Umgebung statt, verrät Heilbron. Um Vorhersagen hervorzurufen, werden die Teilnehmer gebeten, eine halbe Stunde lang auf ein einziges Muster sich bewegender Punkte zu starren oder einfachen Mustern in Tönen wie ‚beep beep boop, beep beep boop, ….‘ zu lauschen. „Studien dieser Art zeigen zwar, dass unser Gehirn Vorhersagen machen kann, aber nicht, dass dies immer auch in der Komplexität des Alltags geschieht. Wir versuchen, es aus der Laborumgebung herauszuholen. Wir untersuchen dieselbe Art von Phänomen, wie das Gehirn mit unerwarteten Informationen umgeht, aber in natürlichen Situationen, die viel weniger vorhersehbar sind.“

Unvorhersehbarkeit von Wörtern bei Hemingway und Holmes

Die Forscher analysierten die Gehirnaktivität von Personen, die Geschichten von Hemingway oder Sherlock Holmes hörten. Gleichzeitig analysierten sie die Texte der Bücher mithilfe von Computermodellen, sogenannten tiefen neuronalen Netzen. Auf diese Weise konnten sie für jedes Wort berechnen, wie unvorhersehbar es war.

Für jedes Wort oder jeden Klang stellt das Gehirn detaillierte statistische Erwartungen auf und es ergab sich, dass es extrem empfindlich auf den Grad der Unvorhersehbarkeit reagiert: Die Reaktion des Gehirns ist stärker, wenn ein Wort im Kontext unerwartet ist. „An sich ist dies nicht sehr überraschend: Schließlich weiß jeder, dass man manchmal kommende Satzteile / Teile vorhersagen kann. So füllt unser Gehirn manchmal automatisch die Lücke und beendet im Geiste die Sätze eines anderen Menschen, wenn dieser zum Beispiel sehr langsam spricht, stottert oder ihm kein Wort einfällt. Wir haben hier jedoch gezeigt, dass dies ständig geschieht. Unser Gehirn ist ständig dabei, Wörter zu erraten; die Vorhersagemaschinerie ist immer in Betrieb“.

Mehr als nur Software

„Unser Gehirn leistet etwas Vergleichbares wie eine Spracherkennungssoftware. Auch Spracherkenner, die künstliche Intelligenz nutzen, machen ständig Vorhersagen und lassen sich von ihren Erwartungen leiten, genau wie die Autovervollständigungsfunktion auf Ihrem Handy. Dennoch haben wir einen großen Unterschied festgestellt: Gehirne sagen nicht nur Wörter voraus, sondern machen Vorhersagen auf vielen verschiedenen Ebenen, von der abstrakten Bedeutung und Grammatik bis hin zu spezifischen Lauten.“

Es gibt gute Gründe für das anhaltende Interesse von Technologieunternehmen, die neue Erkenntnisse dieser Art nutzen möchten, um beispielsweise bessere Sprach- und Bilderkennungssoftware zu entwickeln. Aber diese Art von Anwendungen sind nicht das Hauptziel von Heilbron. „Ich würde wirklich gerne verstehen, wie unsere Prognosemaschinerie auf einer fundamentalen Ebene funktioniert. Ich arbeite jetzt mit demselben Forschungsaufbau, aber für visuelle und auditive Wahrnehmungen, wie Musik“.

© Psylex.de – Quellenangabe: Proceedings of the National Academy of Sciences (2022). DOI: 10.1073/pnas.2201968119

Ähnliche Artikel / News / Themen