Emotionale Dysregulation und rechter Pars orbitalis bilden eine neuropsychologische Verbindung zur Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
29.05.2024 Wissenschaftler aus Cambridge konnten zeigen, dass Probleme bei der Emotionsregulation – die sich in Form von Depressionen, Angstzuständen und explosiven Ausbrüchen äußern können – ein Kernsymptom der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sein können.
In der in der Zeitschrift Nature Mental Health veröffentlichten Forschungsarbeit stellte das Team fest, dass jedes zweite Kind mit ADHS Anzeichen einer emotionalen Dysregulation aufweist und dass Ritalin – das üblicherweise verschriebene Medikament zur Behandlung der Erkrankung – bei der Behandlung dieses Symptoms weniger wirksam zu sein scheint.
Fähigkeit zur Emotionsregulation
Es wird immer deutlicher, dass einige Menschen mit ADHS auch Probleme mit der Selbstkontrolle haben, was ihre Fähigkeit zur Emotionsregulation beeinträchtigt. So leidet beispielsweise eines von 50 (2,1 %) Kindern mit der Diagnose ADHS auch an einer Gemütsstörung wie einer Depression, während mehr als eines von vier (27,4 %) eine Angststörung hat. Viele zeigen auch verbale oder körperliche Ausbrüche, weil sie ihre Emotionen nicht regulieren können.
Bisher ging man davon aus, dass diese Probleme auf andere mit ADHS verbundene Symptome wie kognitive und motivationale Probleme zurückzuführen sind. Die heutige Studie zeigt jedoch, dass emotionale Dysregulationen unabhängig davon auftreten.
Die Forscher untersuchten Daten aus der ABCD-Studie, einer großen Längsschnittkohorte, die die Entwicklung des Gehirns und die psychische Gesundheit von Kindern aus den gesamten Vereinigten Staaten verfolgt. Für etwas mehr als 6.000 dieser Kinder lagen Daten zu ADHS-Symptomen vor, die es den Forschern ermöglichten, jedem Einzelnen eine Punktzahl zuzuordnen, die die Wahrscheinlichkeit einer ADHS-Erkrankung angibt.
Ein Team von Wissenschaftlern der Fudan-Universität in Shanghai, China, und der Universität Cambridge ermittelte 350 Personen in der Kohorte, die hohe Symptomwerte aufwiesen, die dem klinischen Cut-off für ADHS entsprachen. Zwei Drittel (65,7 %) von ihnen waren männlich.
Anzeichen von Emotionsdysregulation
Die Eltern oder Erziehungsberechtigten der Kinder und Jugendlichen in der Kohorte hatten zuvor eine Reihe von Fragebogen ausgefüllt, die Fragen zum emotionalen Verhalten enthielten. Die Forscher fanden heraus, dass die Hälfte (51,4 %) der Personen in der Gruppe mit hoher Symptomatik Anzeichen von Emotionsdysregulation aufwiesen, und zwar unabhängig von kognitiven und motivationalen Problemen.
Bei Kindern mit nur geringen ADHS-Symptomen im Alter von 12 und 13 Jahren war die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Alter von 14 Jahren hohe ADHS-Symptome entwickelten, 2,85-mal höher als bei Kindern mit einem niedrigen Wert für emotionale Dysregulation.
Pars orbitalis
Als die Forscher die Bildgebungsdaten einiger Teilnehmer untersuchten, entdeckten sie eine bestimmte Hirnregion – die Pars orbitalis – die bei Kindern mit hohen Werten für ADHS und emotionale Probleme kleiner war. Die Pars orbitalis befindet sich im vorderen Teil des Gehirns und spielt eine wichtige Rolle beim Verstehen und Verarbeiten von Emotionen und Kommunikation sowie bei der hemmenden Kontrolle des Verhaltens, was einige der bei ADHS auftretenden Verhaltensweisen erklären könnte.
Prof. Barbara Sahakian von der psychiatrischen Abteilung der Universität Cambridge und Fellow of Clare Hall sagte: „Die Pars orbitalis ist ein gut vernetzter Teil des Gehirns, und wenn sie sich nicht richtig entwickelt hat, kann es für den Einzelnen schwierig sein, seine Emotionen zu kontrollieren und mit anderen angemessen zu kommunizieren, insbesondere in sozialen Situationen“.
„Eltern und Lehrer sagen oft, dass sie Mühe mit der Kontrolle von Kindern mit ADHS haben, und es könnte sein, dass die Kinder, wenn sie sich nicht gut ausdrücken können – wenn sie auf emotionale Schwierigkeiten stoßen -, nicht in der Lage sind, ihre Emotionen zu kontrollieren und einen Ausbruch haben, anstatt mit den Eltern, Lehrern oder dem anderen Kind zu kommunizieren.“
Wirksame Behandlungen zur Emotionsregulation
Sahakian hofft, dass die Anerkennung der Emotionsdysregulation als wesentlicher Bestandteil von ADHS den Menschen helfen wird, die Probleme des Kindes besser zu verstehen. Dies könnte dazu führen, dass wirksame Behandlungen zur Emotionsregulation eingesetzt werden, wie z. B. die kognitive Verhaltenstherapie.
Die Ergebnisse könnten auch mögliche Wege aufzeigen, wie man dem Kind bei der Bewältigung seiner Emotionen helfen kann, z. B. indem es mit Hilfe kognitiver Verhaltenstechniken lernt, innezuhalten und nachzudenken, bevor es reagiert, und seine Gefühle verbal auszudrücken, oder indem es Techniken wie Bewegung oder Entspannung anwendet, um sich selbst zu beruhigen oder die Symptome von Depression und Angst zu lindern.
Dies könnte besonders wichtig sein, da die Forscher feststellten, dass das zur Behandlung von ADHS-Symptomen eingesetzte Medikament Ritalin die Symptome der emotionalen Dysregulation nicht ausreichend zu behandeln scheint. Ein früheres Erkennen des Problems würde alternative, wirksamere Interventionen ermöglichen, um dem Kind bei einem besseren Umgang mit seinen Emotionen zu helfen, was ihm möglicherweise im Erwachsenenalter zugute kommen könnte.
„Wenn man gefährdeten Personen von klein auf beibringt, wie man mit seinen Emotionen umgeht und sich ausdrückt, könnte man ihnen helfen, solche Probleme später zu überwinden.“
Emotionale Dysregulation und Dysfunktion des Immunsystems
Obwohl nicht klar ist, was genau diese Probleme verursacht, fanden die Forscher Anzeichen für eine Verbindung zu einer möglichen Dysfunktion des Immunsystems, wobei Personen, die Anzeichen einer emotionalen Dysregulation aufwiesen, einen höheren Prozentsatz bestimmter Arten von Immunzellen zeigten.
Sahakian fügte hinzu: „Wir wissen bereits, dass Probleme mit dem Immunsystem mit Depressionen in Verbindung gebracht werden können, und wir haben ähnliche Muster bei Personen mit ADHS gesehen, die eine emotionale Dysregulation aufweisen.“
© Psylex.de – Quellenangabe: Nature Mental Health (2024). DOI: 10.1038/s44220-024-00251-z