„Ich möchte es lieber nicht wissen“: Ignoranz aus freien Stücken. Eine metaanalytische Untersuchung der zugrundeliegenden Motive für vorsätzliche Ignoranz und ihre Folgen
20.10.2023 Wenn man sie vor die Wahl stellt, zu erfahren, wie sich ihre Handlungen auf andere auswirken, entscheiden sich 40 % der Menschen für Ignoranz bzw. die Unwissenheit, oft um eine Ausrede für ihr egoistisches Handeln zu haben laut einer aktuellen Studie.
„Beispiele für solche vorsätzliche Ignoranz gibt es im Alltag zuhauf, etwa wenn Verbraucher Informationen über die problematische Herkunft der von ihnen gekauften Produkte ignorieren“, so die Hauptautorin Linh Vu von der Universität Amsterdam in den Niederlanden. „Wir wollten wissen, wie weit verbreitet und wie bedenklich vorsätzliche Ignoranz ist und warum sich Menschen darauf einlassen.“
Die Forschungsergebnisse wurden in der Zeitschrift Psychological Bulletin veröffentlicht.
Vu und ihre Kollegen führten eine Metaanalyse von 22 Forschungsstudien mit insgesamt 6.531 Teilnehmern durch. Die Studien wurden alle in Forschungslabors oder online durchgeführt, und die meisten folgten einem Protokoll, in dem einige Teilnehmer über die Folgen ihrer Handlungen informiert wurden, während andere wählen konnten, ob sie die Folgen erfahren wollten oder nicht.
Konsequenzen der eigenen Entscheidung
In einem Beispiel sollten sich die Teilnehmer entscheiden, ob sie eine kleinere Belohnung (5 $) oder eine größere Belohnung (6 $) erhalten wollten. Wenn sie sich für 5 $ entschieden, erhielt ein anonymer Gleichaltriger (oder eine Wohltätigkeitsorganisation) ebenfalls 5 $. Wenn sie sich jedoch für die größere Belohnung von 6 $ entschieden, erhielt der andere Empfänger nur 1 $. Einer Gruppe von Teilnehmern wurde die Möglichkeit geboten, die Konsequenzen ihrer Entscheidung zu erfahren, während einer anderen Gruppe die Konsequenzen automatisch mitgeteilt wurden.
In allen Studien fanden die Forscher heraus, dass sich 40 % der Menschen vor die Wahl gestellt, dafür entschieden, die Folgen ihres Handelns nicht zu erfahren. Diese vorsätzliche Ignoranz war mit weniger Altruismus verbunden. Die Wahrscheinlichkeit, jemandem gegenüber großzügig zu sein, war um 15,6 Prozentpunkte höher, wenn sie über die Konsequenzen ihrer Entscheidung informiert wurden, als wenn sie unwissend bleiben durften.
Positives Selbstbild und Altruismus
Die Forscher stellten die Hypothese auf, dass ein Grund für die vorsätzliche Ignoranz darin liegen könnte, dass manche Menschen sich altruistisch verhalten, weil sie ein positives Selbstbild als altruistische Person aufrechterhalten wollen. In diesen Fällen kann vorsätzliche Ignoranz es ihnen ermöglichen, dieses Selbstbild aufrechtzuerhalten, ohne selbst altruistisch handeln zu müssen.
Laut Shaul Shalvi, Professor für Verhaltensethik an der Universität Amsterdam und Mitautor der Studie, untersützt die Metaanalyse diese These. Denn Teilnehmer, die sich dafür entschieden haben, die Folgen ihres Handelns zu erfahren, mit 7 Prozentpunkten höherer Wahrscheinlichkeit sich großzügig entschieden, verglichen mit den standardmäßig informierten Teilnehmern. Das deutet darauf hin, dass wirklich altruistische Menschen sich dafür entscheiden, die Konsequenzen ihres Handelns zu erfahren.
Ignoranz bietet einen einfachen Ausweg
„Die Ergebnisse sind faszinierend, da sie darauf hindeuten, dass viele der von uns beobachteten altruistischen Verhaltensweisen auf dem Wunsch beruhen, sich so zu verhalten, wie es andere von uns erwarten“, so Shalvi.
„Zwar sind die meisten Menschen bereit, das Richtige zu tun, wenn sie über die Folgen ihres Handelns vollständig informiert sind, doch ist diese Bereitschaft nicht immer darauf zurückzuführen, dass sie sich für andere einsetzen. Ein Teil der Gründe, warum Menschen altruistisch handeln, ist auf den gesellschaftlichen Druck zurückzuführen, aber auch auf den Wunsch, sich selbst in einem guten Licht zu sehen. Da Rechtschaffenheit oft kostspielig ist und den Menschen Zeit, Geld und Mühe abverlangt, bietet Ignoranz einen einfachen Ausweg.“
© Psylex.de – Quellenangabe: Psychological Bulletin, 149(9-10), 611–635. https://doi.org/10.1037/bul0000398