Die Reformbewegung der Psychologie braucht eine Neukonzeptionierung des wissenschaftlichen Expertentums
04.02.2024 Eine Abkehr vom einzelnen Experten als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnisse und Autorität wird von Forschern in einer kürzlich in der Zeitschrift Social Psychological Bulletin veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeit vorgeschlagen.
Das Team von Dr. Duygu Uygun Tunç (derzeit an der University of Chicago, USA) und Doktorand Mehmet Necip Tunç (Universität Tilburg, Niederlande) schlägt darin ein „erweitertes Kompetenzmodell“ vor, bei dem wissenschaftliches Fachwissen eher damit assoziiert wird, dass man eine „verlässliche Informationsquelle“ zu bestimmten wissenschaftlichen Fragen ist, als mit Referenzen wie Ausbildung, Zugehörigkeit, wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Auszeichnungen und Zuwendungen.
Gruppen (und nicht Einzelpersonen) sind die wahren Experten
Diese Perspektive ermöglicht zwei Dinge: Wir können Gruppen (und nicht Einzelpersonen) als die wahren Experten identifizieren, wenn die wissenschaftlichen Fragen nur durch eine kollektive Anstrengung angegangen werden können; und wir können Fachwissen auf der Grundlage tatsächlicher Leistungen und nicht von in der Vergangenheit erworbenen Auszeichnungen bewerten.
Diese Reform, so argumentieren sie, wäre der Schlüssel, um nicht nur den wissenschaftlichen Beitrag aller an einer großen Team-Entdeckung Beteiligten angemessen zu würdigen, sondern auch die Selbstkorrektur, die Reproduzierbarkeit und damit die allgemeine Integrität der Wissenschaft zu verbessern.
„Wissenschaftliche Expertise ist seit mehreren Jahrzehnten ein kontroverses Thema, da mit dem Anspruch auf Expertise auch der Anspruch auf intellektuelle Autorität und Verantwortung einhergeht. Soll ich den Experten vertrauen, wenn sie mir sagen, dass ich mich einer riskanten Operation unterziehen oder ein neu erforschtes Medikament einnehmen soll, oder dass die Regierungen drastische Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels ergreifen müssen?“
Wie wir Fachwissen definieren und rechtfertigen, hat Auswirkungen auf das öffentliche Vertrauen in die Wissenschaft. Ein Aspekt der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft ist ihre Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Wie wir wissenschaftliches Fachwissen verstehen, wirkt sich darauf aus, wie wir Probleme mit der Selbstkorrektur diagnostizieren und wie wir den Weg zu Lösungen einschlagen.
In ihrer wissenschaftlichen Arbeit untersuchten die Forscher, wie die Forschungstradition in der Psychologie wissenschaftliche Expertise auffasst und wie diese Auffassung Reformbemühungen zur Steigerung der Selbstkorrekturfähigkeit der Psychologie behindert.
Gängige Auffassung von Expertise bis heute sehr individualistisch
Das Team stellt fest, dass die gängige Auffassung von Expertise bis heute sehr individualistisch ist und sich auf den Besitz herausragender Zeugnisse oder einzigartiger Kenntnisse und Fähigkeiten konzentriert. Sie weisen darauf hin, dass die Gesellschaft und die politischen Entscheidungsträger stattdessen ein nicht-individualistisches Modell bevorzugen sollten, das sich auf eine kompetente und verantwortungsvolle epistemische Leistung konzentriert.
Sie erinnern auch daran, dass umfangreiche Forschungskooperationen mit anderen Wissenschaftlern immer häufiger werden, zumal komplexe und interdisziplinäre Fragestellungen vielschichtige, sozial verteilte kognitive Aufgaben erfordern, die die Kapazitäten eines Einzelnen übersteigen. Es ist jedoch sehr schwierig, einen Experten, der in dem gegebenen System von Anerkennung und Anreizen keine Einzelperson ist, anzuerkennen, zu belohnen oder zur Verantwortung zu ziehen.
„Frühere Forschungen zu methodischen Problemen haben gezeigt, dass ein erheblicher Teil der komplexen Fragen der Psychologie Forschungszusammenarbeit erfordert. Aber warum finden die Rufe nach großer Teamforschung keinen größeren Anklang, und warum stehen die bestehenden Initiativen vor erheblichen praktischen Herausforderungen?“, fragen die Forscher. Darüber hinaus zeigen Studien über fragwürdige Forschungspraktiken und Verstöße gegen die wissenschaftliche Integrität, dass der Besitz einschlägiger Kenntnisse und Fähigkeiten nicht unbedingt eine zuverlässige Leistung als Experte voraussagt, erklären sie weiter.
Um die Krise der wissenschaftlichen Selbstkorrektur zu bewältigen, entwickeln die Forscher ein neuartiges leistungsbasiertes und nicht-individualistisches Konzept der Expertise im Sinne der Zuverlässigkeit von Informanten. In ihrer Studie erörtern sie auch, wie die Konzeption von Fachwissen als Zuverlässigkeit von Informanten dazu beitragen kann, eine bessere Wissenschaftspolitik zu entwickeln, um die Selbstkorrektur zu verbessern und einige der Reaktionen auf wissenschaftliche Reformen besser zu verstehen und ihnen entgegenzuwirken.
Psychologische Experten und ‚Astrologieexperten‘
Sie argumentieren, dass psychologische Experten in dem Maße als zuverlässige Informanten angesehen werden können, in dem sie verlässliche und glaubwürdige Informationen über psychologische Phänomene liefern, genaue Vorhersagen über diese Phänomene treffen, wirksame Interventionen für psychologische Probleme entwickeln und umsetzen oder zur Entwicklung wirksamerer sozialer Strategien für gesellschaftliche Probleme beitragen.
Andernfalls unterscheiden sie sich möglicherweise nicht wesentlich von ‚Astrologieexperten‘, die über ein umfangreiches Wissen über astrologische Theorien sowie über beträchtliche Fähigkeiten bei der Beobachtung, Aufzeichnung und Interpretation der Muster und Bewegungen von Himmelsobjekten im Lichte astrologischer Theorien verfügen, aber einfach nicht in der Lage sind, ihr Versprechen als Experten zu erfüllen: die Vorhersage künftiger Ereignisse durch genaue Beobachtung von Konstellationen, so die Forscher.
Als vorläufige Vorschläge, wie man vorankommen kann, sagen die Forscher: „Als Maßstäbe für Fachwissen sollten wir daher Metriken der Eminenz (z. B. h-Faktoren) durch Metriken ersetzen, die direkt auf die Erfassung einer Erfolgsbilanz kompetenter und verantwortungsvoller epistemischer Leistung ausgerichtet sind (z. B. Indizes für das Risiko falscher Entdeckungen oder empirische Replizierbarkeitsprüfungen).“
© Psylex.de – Quellenangabe: Social Psychological Bulletin (2023). DOI: 10.32872/spb.10303
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