Chaotische Dynamik im Gehirn erzeugt neuronale Fluktuationen, die die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten ermöglichen
26.07.2024 Laut einer neuen Analyse von Neurowissenschaftlern könnte das Chaos hinter der Fähigkeit des Gehirns zur Berechnung von Wahrscheinlichkeiten (probabilistisches Denken) stecken. Die Forschungsergebnisse wurden in den Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht.
Unsere Wahrnehmung wird durch eine Vielzahl von Sinneseindrücken geprägt. So verarbeitet das Gehirn beispielsweise visuelle und akustische Eindrücke, um eine Reihe möglicher Orte für ein Objekt zu erzeugen, und bewertet die mit jeder Option verbundene Unsicherheit. Aber wie genau das Gehirn diese Möglichkeiten bewertet, ist ein Rätsel.
Taro Toyoizumi vom RIKEN Center for Brain Science (CBS) glaubt, dass die Antwort in der Beobachtung liegen könnte, dass elektrische Signale in der Hirnrinde immer ’summen‘ – auch wenn es keinen sensorischen Input gibt. Aufzeichnungen solcher Signale zeigen, dass Neuronen in der Hirnrinde spontan fluktuieren, selbst wenn sie einen leeren Bildschirm ohne Ton betrachten, sagt er.
Einige Experimente deuten darauf hin, dass diese spontane Aktivität darauf zurückzuführen ist, dass das Gehirn über mögliche Szenarien nachdenkt – vielleicht aufgrund von Sinneseindrücken, die es in der Vergangenheit erhalten hat.
Aktivität folgt einer chaotischen Dynamik
Toyoizumi wollte zusammen mit seinem Kollegen Yu Terada die Hypothese untersuchen, dass diese Aktivität einer chaotischen Dynamik folgt, bei der eine winzige Änderung der Ausgangsbedingungen zu stark abweichenden Ergebnissen führen kann.
Die Chaostheorie wird bei der Klimamodellierung häufig herangezogen und durch den Schmetterlingseffekt veranschaulicht, bei dem z. B. ein Insekt, das in der Schweiz mit den Flügeln schlägt, einen Taifun in Japan auslösen kann.
„Es gibt Beobachtungen, die auf einen schmetterlingsähnlichen Effekt im Gehirn hindeuten“, sagt Toyoizumi. „Er wurde beobachtet, indem man ein einzelnes Neuron störte und sah, wie schnell sich der Einfluss auf die gesamte Neuronenpopulation ausbreitete. Aber es ist immer noch eine Streitfrage.“
Chaotische Dynamik im Gehirn erzeugt neuronale Fluktuationen, die probabilistische Berechnungen ermöglichen
Die Idee der beiden ist, dass die chaotische Dynamik im Gehirn die neuronalen Fluktuationen erzeugt, die probabilistische Berechnungen ermöglichen. „Das scheint kontraintuitiv, denn man könnte annehmen, dass chaotisches Denken zu stark voneinander abweichenden Antworten führen würde“, sagt Toyoizumi. „Die Menschen assoziieren Chaos mit Rechenfehlern, die man vermeiden möchte.“
Die beiden fütterten ein computergestütztes neuronales Netzwerk, das von einer chaotischen Dynamik angetrieben wird, mit sensorischen Informationen über den Standort eines Objekts.
„Ein Neuron würde feuern, wenn sich das Objekt im Norden befindet, ein anderes, wenn es sich im Nordosten befindet, und so weiter“, sagt Toyoizumi. Aufgrund des Chaos können sich die feuernden Neuronen zu jedem Zeitpunkt unregelmäßig verändern. Aber über die Zeit gemittelt, entspricht die Häufigkeit des Feuerns der Neuronen der korrekten Wahrscheinlichkeit für den Standort des Objekts.
„In unserem Modell ist die endgültige Wahrscheinlichkeitsverteilung robust und liefert trotz des Chaos nahezu optimale Ergebnisse“, sagt Toyoizumi.
Toyoizumis nächstes Ziel ist die Erforschung der Kreativität. „Die heutige künstliche Intelligenz ist sehr gut, aber sie haut uns nicht vom Hocker“, sagt er. „Ich möchte herausfinden, welche Art von Fluktuationen kreative Ideen hervorbringen.“
© Psylex.de – Quellenangabe: Proceedings of the National Academy of Sciences (2024). DOI: 10.1073/pnas.2312992121