Kreatives Potenzial freisetzen: Die Aufarbeitung emotionaler Ereignisse fördert die Kreativität konventioneller Denker
22.11.2022 Auch Menschen, die eher zu konventionellem Denken neigen, wie z. B. Buchhalter oder Versicherungssachverständige, können kreativ sein laut einer aktuellen Studie, wenn sie emotionale Situationen in einem anderen Licht betrachten.
In einer Reihe von Experimenten fanden die Forscher heraus, dass konventionelle Denker – also Menschen, die wenig offen für neue Ideen und Erfahrungen sind – kreativere Ideen hatten als ihre Kollegen, nachdem sie eine „emotionale Neubewertung bzw. Umbewertung“ vorgenommen hatten. Dies bedeutet, dass eine Situation durch eine andere emotionale Brille betrachtet wird, z. B. indem man versucht, ein wutauslösendes Ereignis als etwas Neutrales oder Hoffnunggebendes zu sehen.
Die in der Fachzeitschrift Organizational Behavior and Human Decision Processes veröffentlichte Studie zeigt, dass Kreativität trainiert werden kann.
„Eine der Implikationen der Studie ist, dass Kreativität nicht etwas ist, das nur Menschen zugänglich ist, die wir als ‚kreativ‘ ansehen“, sagte die Hauptautorin Lily Zhu vom Carson College of Business der Washington State University. „Wann immer wir unsere bisherige Perspektive verlassen und versuchen, über etwas nachzudenken, das sich von unserer ersten Reaktion unterscheidet, entsteht ein kreatives Element. Wenn wir diesen Muskel des flexiblen Denkens üben oder trainieren können, kann er uns helfen, mit der Zeit kreativer zu werden.“
Die Experimente
Für die Studie führten Zhu und die Co-Autoren Chris Bauman und Maia Young von der University of California, Irvine, eine Umfrage und zwei ähnliche Experimente mit drei verschiedenen Gruppen von Menschen durch. Die erste Umfrage unter 279 College-Studenten ergab, dass eher kreative Menschen, die eine hohe Offenheit für neue Ideen aufwiesen, auch dazu neigten, regelmäßig emotionale Neubewertungen vorzunehmen.
In einem Experiment mit 335 Personen, die über eine Crowdsourcing-Plattform rekrutiert wurden, wurden die Teilnehmer zunächst nach ihrem Offenheitsgrad eingestuft und dann eine Filmszene gezeigt, die Wut auslösen sollte. Während der Betrachtung erhielten sie verschiedene Anweisungen: Sie sollten ihre Emotionen unterdrücken, an etwas anderes denken, um sich abzulenken, oder eine emotionale Bewertung versuchen, indem sie die Szene durch eine andere (emotionale) Brille betrachteten. Ein Teil der Teilnehmer erhielt auch keine Anweisung, wie sie ihre Emotionen regulieren sollten.
Nachdem sie den Film gesehen hatten, sollten die Teilnehmer eine Idee für die Nutzung eines Raums in ihrem Gebäude entwickeln, der von einer stillgelegten Cafeteria geräumt wurde. Diese Ideen wurden dann von einem Gremium von Experten bewertet, die nichts über die Teilnehmer wussten. Ideen wie die Nutzung des Raums für „Napping Pods“ oder die Eröffnung einer Kinderbetreuungseinrichtung wurden als sehr kreativ eingestuft, während die Eröffnung einer ähnlichen Cafeteria oder eines Lebensmittel-Franchiseunternehmens als wenig kreativ galt.
Im nächsten Experiment sollte eine andere Gruppe von 177 Teilnehmern über ein Erlebnis schreiben, das sie wütend gemacht hatte, anstatt einen Film zu sehen. Anschließend sollten sie entweder aus einer anderen emotionalen Perspektive erneut darüber schreiben oder zur Ablenkung über etwas anderes.
Förderung der Kreativität von konventionell denkenden Menschen
In beiden Experimenten kamen konventionell denkende Teilnehmer, die eine emotionale Neubewertung versuchten, auf kreativere Ideen als andere konventionell denkende Teilnehmer, die Unterdrückung, Ablenkung oder überhaupt keine Strategie zur Emotionsregulation verwendeten.
Bemerkenswert ist, dass bei Teilnehmern, die von vornherein als kreative Denker galten, die emotionale Neubewertung anscheinend keinen großen Einfluss auf ihre Kreativität hatte. Die Autoren vermuten, dass kreative Menschen bereits dazu neigen, die emotionale Aufarbeitung regelmäßig zu praktizieren, so dass eine weitere Anwendung keinen großen Einfluss hat, so als würde man mehr Benzin in ein Auto geben, das bereits vollgetankt ist.
Die Ergebnisse haben laut den Forschern Auswirkungen auf die Verbesserung der Unternehmensproduktivität, da es möglich scheint, das Wissen und die Erfahrung von mehr Mitarbeitern zu nutzen, indem ihre Kreativität gefördert wird, selbst in konventionellen Berufen wie Buchhaltung, Versicherungswesen oder Datenanalytik.
Zhu schlug vor, dass Vorgesetzte Schulungen entwickeln könnten, um kreative Denkfähigkeiten bei den Mitarbeitern zu fördern. Der Einzelne kann sich auch darin üben, seine Emotionen neu zu bewerten, wenn er mit einer Krise oder Herausforderung konfrontiert wird, anstatt negative Gefühle zu unterdrücken.
„Negative Emotionen sind am Arbeitsplatz unvermeidlich“, sagte Zhu. „Die Frage ist nicht, ob wir negative Emotionen wollen oder nicht. Die Frage ist: Wie können wir besser mit ihnen umgehen, und zwar auf eine produktive, gesunde Weise? Diese Studie zeigt unter anderem, dass wir negative Emotionen in unserem Alltag als Gelegenheit nutzen können, um flexibles Denken zu üben.“
© Psylex.de – Quellenangabe: Organizational Behavior and Human Decision Processes (2022). DOI: 10.1016/j.obhdp.2022.104209
Ähnliche Artikel / News / Themen
- Langeweile bei der Arbeit kann Kreativität erzeugen
- Der Einfluss der Impulsivität auf das Kreativsein