Ein direkter Blick erzeugt immer Aufmerksamkeit? Das stimmt so pauschal nicht, wie ein Forschungsteam am Institut für Psychologie der Uni Würzburg zeigen konnte. Es kommt auf den Kontext an.
19.09.2022 Es ist ein Phänomen, das vermutlich wir alle schon erlebt haben. In dichtem Getümmel, im Verkehr, in einer großen Menschenmenge: Wenn eine andere Person einem in die Augen schaut, fällt das sofort auf. Tatsächlich braucht es nur Bruchteile von Sekunden, den Blickkontakt zu registrieren und zu verarbeiten.
Was beim direkten Blickkontakt aus psychologischer Sicht passiert: Dafür interessiert sich Anne Böckler-Raettig, Professorin am Lehrstuhl Psychologie III der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU). Soziale Kognition ist einer ihrer Forschungsschwerpunkte; seit 2017 leitet sie die Forschungsgruppe „More than meets the eye: Untersuchungen zur Integration, Funktion und Beeinträchtigung der Verarbeitung von direktem Blickkontakt“.
Jetzt hat Böckler-Raettig gemeinsam mit ihrem Team und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den USA und aus Kanada neue Details rund um die Verarbeitung von Blicken und Gesichtsausdrücken entschlüsselt. In der Fachzeitschrift Journal of Experimental Psychology stellt sie die Ergebnisse ihrer Studie vor.
Der emotionale Ausdruck prägt die Aufmerksamkeit
„Wir konnten zeigen, dass der emotionale Ausdruck von Gesichtern beeinflusst, wie die dazugehörigen Blicke unsere Aufmerksamkeit prägen“, erklärt Dr. Christina Breil, die Erstautorin der Studie. Konkret bedeutet dies: Gesichter, auf denen sich beispielsweise Freude zeigt – die Psychologie spricht in diesem Fall von einer Emotion der Zuwendung – fördern die Aufmerksamkeit, wenn das Gesicht den Betrachter direkt ansieht – also Blickkontakt besteht. Gleiches gilt für einen verärgerten Gesichtsausdruck, denn auch Wut und Ärger sind aus Sicht der Psychologie sogenannte Annäherungs-Emotionen.
Anders verhält es sich bei Emotionen der Abwendung wie etwa Ekel oder Angst. In diesen Fällen steigert überraschenderweise ein abgewandter Blick die Aufmerksamkeit der Betrachter. Der direkte Blickkontakt zeigt in diesen Fällen keinen solchen Effekt.
Blickkontakt bringt bei neutralen Gesichtern Aufmerksamkeit
In einer früheren Studie hatten Böckler-Raettig und ihr Team bereits nachgewiesen, dass bei Gesichtern mit einem neutralen Ausdruck die Aufmerksamkeit der Betrachter besonders groß ist, wenn diese Gesichter sie direkt anblicken. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bekamen dafür auf einem Bildschirm gleichzeitig vier Bilder präsentiert, die jeweils das Gesicht ein und derselben Frau zeigten. Der einzige Unterschied: Manche Gesichter blickten die Probanden an, andere nicht. Zusätzlich trugen alle Gesichter haben einen kleinen Platzhalter auf der Stirn in Form einer 8.
„Nach exakt 1,5 Sekunden haben wir dann die vier Achten durch Buchstaben ersetzt. Einer darunter war entweder ein S oder ein H“, erklärt Böckler-Raettig. Sobald diese Buchstaben auf einem der vier Gesichter zu sehen waren, sollten die Probanden reagieren: ein S drücken auf einer Tastatur, wenn sie ein S sehen, ein H, wenn ein H auftaucht. Die Reaktionszeit war dann das Maß für den Grad an Aufmerksamkeit.
Die Ergebnisse dieser Studie zeigten: Obwohl die Gesichter dafür ignoriert werden können, erkennen Menschen die relevanten Buchstaben schneller, wenn diese auf einem Gesicht präsentiert werden, das sie anschaut. Warum? „Weil Blickkontakt unsere Aufmerksamkeit anzieht“, so die Psychologin.
Wut und Freude signalisieren Annäherung
Wie sich allerdings unterschiedliche emotionale Gesichtsausdrücke auf die Aufmerksamkeit auswirken: Dazu gab es bislang nur Theorien. Diese besagen im Wesentlichen, dass Blicke und Gesichtsausdrücke dann besonders stark gemeinsam wirken, wenn sie unter den Aspekten „Annäherung“ beziehungsweise „Vermeidung“ kongruent sind.
„Kongruent ist beispielsweise ein erfreutes Gesicht, das Sie anschaut, denn Freude ist eine Annäherungs-Emotion, und der direkte Blick drückt ebenfalls Annäherung aus“, sagt Breil. Kongruent ist demnach auch ein angeekeltes Gesicht, das wegschaut.
Um diesen Effekt zu untersuchen, hat das Team das Design der Studie verändert. Jetzt wechselten die Gesichter von einem neutralen Ausdruck, wenn die Achten gezeigt wurden, in einen emotionalen – in der einen Versuchsreihe zu Wut oder Angst, im anderen zu Freude oder Ekel, jeweils also entweder annäherungs- oder vermeidungsorientierte Gesichtsausdrücke.
Bei Ekel steigert Abwendung die Aufmerksamkeit
Insgesamt 102 Personen haben an dieser Studie teilgenommen. Die Ergebnisse zeigen deutlich: Folgen glückliche Gesichtsausdrücke auf neutrale und der Blick ist auf den Betrachter gerichtet, fallen die Reaktionen am schnellsten aus. Umgekehrt sieht das Ergebnis aus, wenn der Gesichtsausdruck zu Ekel wechselt. Dann kommt die Reaktion schneller, wenn der Blick abgewendet ist.
Zur Kontrolle dieser Ergebnisse hat das Team dieses Experiment wiederholt und dabei die Blickbewegungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gemessen. „Wir finden dasselbe Muster auch in den Blickbewegungen: Probanden schauen schneller und länger auf Gesichter, die fröhlich sind und sie direkt anblicken, und schneller auf Gesichter, die wegschauen, wenn diese Ekel ausdrücken“, sagt Böckler-Raettig.
Schnelle Verarbeitung von Ausdruck und Blickrichtung
Dieses Muster weist nach den Worten der Psychologin zum einen darauf hin, dass Menschen sehr schnell und effizient den Gesichtsausdruck und die Blickrichtung von Gesichtern gemeinsam verarbeiten können. Tatsächlich beginnt dieser Prozess bereits etwa 200 Millisekunden, nachdem der Reiz gezeigt wird. Zum anderen sprechen die Ergebnisse dafür, dass Blicke nicht, wie oft gedacht, kontextunabhängig verarbeitet werden und immer die gleiche Wirkung haben. Selbst wenn es um so basale Prozesse geht wie das Erregen von Aufmerksamkeit durch Blicke, spielt der Kontext eine Rolle.
Originalpublikation: Don’t look at me like that: integration of gaze direction and facial expression. Christina Breil, Tim Raettig, Roxana Pittig, Robrecht P.R.D. van der Wel, Timothy Welsh, Anne Böckler. Journal of Experimental Psychology. https://doi.org/10.1037/xhp0001046
Quellenangabe: Pressemitteilung Julius-Maximilians-Universität Würzburg
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