Ich teile, also weiß ich? Das Teilen von Online-Inhalten – auch ohne sie zu lesen – bläht das subjektiv wahrgenommene Wissensniveau auf
02.12.2022 Haben Sie schon einmal einen Artikel in sozialen Medien gepostet oder retweetet, ohne ihn vorher zu lesen?
Forscher der University of Texas in Austin haben herausgefunden, dass das Teilen von Artikeln in sozialen Medien – unabhängig davon, ob wir sie gelesen haben oder nicht – zu unserer Annahme führen können, wir wüssten mehr darüber, als wir es tatsächlich tun. Die Ergebnisse wurden kürzlich im Journal of Consumer Psychology veröffentlicht.
Adrian Ward, Assistenzprofessor für Marketing an der UT Austin, sagte, dass das Teilen von Artikeln im Internet dazu führen kann, dass wir eine „Experten“-Identität annehmen, wodurch wir uns unseres Wissens in einer Weise sicher sind, die auch unser Verhalten beeinflussen kann. Die Ergebnisse der Forscher haben wichtige Auswirkungen in einer Welt, in der ein Großteil der Informationen, die wir konsumieren, in Form von Tweets, Posts oder TikTok zu uns kommt.
Man könnte sagen: „Es ist egal, ob die Leute denken, dass ich darüber Bescheid weiß. Ich weiß, dass ich es wirklich nicht tue“, sagte Ward, einer der Autoren der Studie. „Im Laufe der Zeit könnte man tatsächlich zu der Überzeugung gelangen, dass man über diese Dinge Bescheid weiß, weil man sie online teilt.“
Gefühltes Wissen: Ich bin der Experte
Ward und sein Team haben eine Reihe von Experimenten durchgeführt, um herauszufinden, ob Menschen Inhalte in sozialen Medien teilen, ohne sie zu lesen, und wie sich dies auf ihr Wissensniveau auswirkt.
In einer Studie zeigten die Forscher 98 College-Studenten Online-Nachrichtenartikel und erlaubten ihnen, diese nach Belieben zu lesen und zu teilen. Dann bewerteten sie das objektive Wissen der Teilnehmer – wie viel sie über die Artikel wussten. Und ihr subjektives Wissen – wie viel sie glaubten zu wissen.
Die Forscher entdeckten ein Muster. Personen, die Inhalte teilten, hatten ein höheres subjektives Wissen oder glaubten, mehr über den Artikel zu wissen, unabhängig davon, ob sie die Geschichte gelesen hatten oder nicht.
Ward und sein Team führten Folgestudien durch, um herauszufinden, warum dieser Anstieg des gefühlten Wissens auftrat. In einer Studie mit 217 College-Studenten entdeckten sie ein interessantes Ergebnis.
Wenn die Teilnehmer Artikel unter dem Namen einer anderen Person teilten, nahm ihr subjektives Wissen nicht zu: Der Effekt trat nur auf, wenn die Teilnehmer ihre Artikel unter ihrem eigenen Namen teilten. Daraus schloss Ward, dass das Verhalten der Teilnehmer beim Teilen dazu führte, dass sie etwas über sich selbst verinnerlichten.
„Wenn wir etwas teilen“, so Ward, „verkünden wir in gewisser Weise, dass wir darüber Bescheid wissen“.
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Wenn wir in den sozialen Medien von Freunden geteilte Artikel sehen, gehen wir davon aus, dass unsere Freunde wissen, wovon sie sprechen. Wenn wir also selbst Artikel teilen, geben wir uns selbst diesen „Experten“-Status, auch wenn wir das geteilte Material nicht gelesen haben.
„Experteneffekt“ beeinflusst auch das Verhalten
Ward und sein Team fanden heraus, dass sich dieser „Experteneffekt“ auch auf das Verhalten der Teilnehmer auswirkte. Sie baten 300 aktive Facebook-Nutzer, einen Artikel zum Thema Geldanlage zu lesen, und ließen sie den Artikel teilen oder nicht. Dann ließen sie die Teilnehmer eine Simulation zur Ruhestandsplanung durchführen, bei der sie ihr Geld zwischen risikoreicheren Aktien und sicheren Anleihen aufteilen konnten.
Die Teilnehmer, die die Artikel teilten, trafen riskantere Entscheidungen als diejenigen, die den Artikel nicht teilten.
© Psylex.de – Quellenangabe: Journal of Consumer Psychology (2022). DOI: 10.1002/jcpy.1321
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