Neuronale Reaktionen auf Baby Talk / Motherese korrespondieren mit klinischen und sozialen Blickverfolgungsprofilen bei Kleinkindern mit Autismus-Spektrum-Störungen
04.01.2022 Motherese (auch Baby Talk, Ammensprache, Kinder- oder Babysprache oder umgangssprachlich „Mutterisch“ oder „Elterisch“ genannt) ist eine Form der vereinfachten, übertrieben melodischen Sprache, die Eltern verwenden, um mit Neugeborenen und Kleinkindern zu kommunizieren.
Infant-directed speech (kindgerichtete Sprache)
Ein Hund wird zu „wauwau“, Eltern werden zu „mama“ und „papa“. Die Tendenz, in solchen kurzen Sing-Song-Phrasen zu sprechen, ist in allen Kulturen verbreitet.
Frühere Forschungen haben gezeigt, dass Säuglinge der Motherese, die fachsprachlich als Infant-directed speech (kindgerichtete Sprache) bezeichnet wird, den Vorzug vor der Erwachsenensprache geben, da sie ihre Aufmerksamkeit besser aufrechterhalten und ein wichtiger Bestandteil der emotionalen Bindung und der Lernerfahrung zwischen Kind und Eltern sind.
Verminderte Reaktion auf Motherese bei Kindern mit Autismus
Ein frühes Anzeichen für eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) bei Kindern ist eine verminderte Reaktion auf Motherese und Probleme bei der anhaltenden Aufmerksamkeit für soziale Informationen im Allgemeinen. In einer neuen in der Fachzeitschrift Nature Human Behavior veröffentlichten Studie haben Forscher der University of California San Diego School of Medicine eine Reihe von Techniken angewandt, um die Gehirnregionen zu bestimmen, die für die Reaktion eines Kindes auf Babysprache verantwortlich sind.
Diese neue Studie kombinierte modernste Bildgebung des Gehirns, Eye-Tracking und klinische Tests und öffnet die Tür zur Präzisionsmedizin bei Autismus, sagt der Hauptautor Eric Courchesne, Professor für Neurowissenschaften an der UC San Diego School of Medicine.
Courchesne sagt, der Ansatz bringe neue Erkenntnisse darüber, wie sich das Gehirn von Kindern mit Autismus in Bezug auf objektive Informationen über soziale Präferenzen und soziale Aufmerksamkeit entwickelt.
Normal entwickelte Säuglinge bevorzugen Motherese gegenüber anderen Formen der Erwachsenensprache, und frühere Studien haben ergeben, dass ihr Gehirn Motherese anders verarbeitet als nichtsprachliche Laute. Es gibt jedoch nur wenige Forschungsergebnisse darüber, wie und warum Kinder mit Autismus nicht durchgängig auf Motherese reagieren und was die langfristigen Folgen sein könnten, wenn sie sich „ausklinken“.
Courchesne und seine Kollegen vom Autism Center of Excellence an der UC San Diego stellten die Hypothese auf, dass bei Säuglingen und Kleinkindern mit ASS die Entwicklung der angeborenen neuronalen Mechanismen, die auf Motherese reagieren, beeinträchtigt ist. Um dies zu untersuchen, führten sie eine Reihe von Tests mit 71 Kleinkindern und 14 Erwachsenen durch.
- Mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) von schlafenden Kleinkindern maßen sie die Gehirnaktivität auf Motherese und andere Formen sozialer, affektiver Sprache.
- Sie führten klinische Bewertungen der sozialen und sprachlichen Entwicklung durch.
- Außerdem setzten sie die Eye-Tracking-Technologie ein, um die Reaktionen auf Motherese von Frauen im Vergleich zu nicht-sprachlichen Computertönen und -bildern zu messen. Frühere Forschungen an der UC San Diego und anderswo haben gezeigt, dass Kleinkinder mit Autismus weniger Interesse an sozialen Aktivitäten und Reizen zeigen, die normalerweise die Aufmerksamkeit eines Kleinkindes auf sich ziehen, wie das Beobachten anderer Kinder beim Spielen, Singen oder Tanzen.
Zusammenhang mit Gehirnaktivität
Die Forscher fanden heraus, dass individuelle Unterschiede in der sozialen und sprachlichen Entwicklung im frühen Alter mit den neuronalen Reaktionen eines Kindes auf Sprache verbunden sind, und dass ASS-Säuglinge und -Kleinkinder mit den schlechtesten neuronalen Reaktionen auf Motherese auch die schwersten sozialen Symptome, die schlechtesten sprachlichen Ergebnisse und die größte Beeinträchtigung der Verhaltenspräferenz und Aufmerksamkeit gegenüber Motherese aufweisen.
Umgekehrt zeigten Säuglinge und Kleinkinder mit typischer Entwicklung die stärksten neuronalen Reaktionen und die größte Affinität zur Motherese.
Blickmuster
Mithilfe einer computergestützten Methode der Präzisionsmedizin zur Integration von Daten, der sogenannten Ähnlichkeitsnetzfusion, verbanden sie Blickmuster mit neuronalen und verhaltensbezogenen Reaktionen, was ihre Ergebnisse weiter bestätigte.
Bei Kindern mit ASS mit den schwächsten sozialen Fähigkeiten und der geringsten Augenaufmerksamkeit für Motherese reagierte der obere temporale Kortex – eine Hirnregion, die Laute und Sprache verarbeitet – schwächer auf Motherese und emotionale Sprache.
Das Gegenteil war bei Kindern mit normaler Entwicklung der Fall, die eine starke neuronale Reaktion im oberen Temporalbereich auf Motherese und emotionale Sprache zeigten. Einige wenige Kleinkinder mit Autismus zeigten eine starke Hirnaktivierung und Interesse an Motherese, wie durch Eye-Tracking bestimmt.
Gestörte Entwicklung der angeborenen temporalen kortikalen neuralen Systeme
Die Schlussfolgerung ist, dass die fehlende Verhaltensaufmerksamkeit für Motherese bei Autismus mit einer gestörten Entwicklung der angeborenen temporalen kortikalen neuralen Systeme einhergeht, die normalerweise automatisch auf die emotionale Sprache der Eltern reagieren würden, sagte Studienkoautorin Karen Pierce, Professorin für Neurowissenschaften an der UC San Diego School of Medicine und Co-Direktorin des Autism Center of Excellence mit Courchesne.
Die Tatsache, dass einige Kinder mit Autismus eine starke Gehirnaktivierung und eine gute Aufmerksamkeit für Motherese zeigten, ist aus zwei Gründen ermutigend, sagt sie:
- Erstens, weil es darauf hindeutet, dass diese besonderen Kleinkinder mit Autismus wahrscheinlich gute Ergebnisse erzielen werden – eine neu entdeckte und wichtige Untergruppe.
- Und zweitens deutet es auf einen neuen Weg für die Behandlung hin.
© Psylex.de – Quellenangabe: Nature Human Behaviour, 2022; DOI: 10.1038/s41562-021-01237-y