Rauschen stört den Kompass des Gehirns
Wie Orientierungsprobleme entstehen können
10.06.2020 Die Fähigkeit zur räumlichen Orientierung lässt mit dem Alter tendenziell nach. Forscher des DZNE und Fachleute aus den USA berichten im Wissenschaftsjournal „Nature Communications“ über neue Einblicke in die Ursachen dieses Phänomens. Hauptfehlerquelle bei der Positionsbestimmung und offenbar Auslöser altersbedingter Orientierungsprobleme ist demnach eine „verrauschte“, mithin ungenaue Wahrnehmung der Geschwindigkeit, mit der man sich fortbewegt. Diese Studienergebnisse könnten dazu beitragen, Methoden der Früherkennung von Demenz zu entwickeln.
Von visuellen Reizen über Rückmeldungen der Muskulatur bis hin zu Signalen, die das Gleichgewichtsorgan übermittelt – das menschliche Gehirn nutzt ein weites Spektrum an Sinneseindrücken zur Positionsbestimmung und um uns gezielt durch den Raum zu lotsen. Ein wesentlicher Teil der dafür nötigen Informationsverarbeitung geschieht im „entorhinalen Cortex“. In diesem, in beiden Gehirnhälften vorhandenen Areal liegen besondere Nervenzellen, die ein geistiges Abbild der physikalischen Umgebung erzeugen. Dadurch werden Informationen über den Raum in ein „Datenformat“ übersetzt, welches das Gehirn verarbeiten kann. „Das menschliche Navigationssystem funktioniert recht gut. Ist aber nicht fehlerfrei“, erläutert Prof. Thomas Wolbers, Forschungsgruppenleiter am DZNE, Standort Magdeburg. „Bekanntermaßen gibt es Menschen mit gutem Orientierungsvermögen und solche, die sich damit schwerer tun. Außerdem beobachtet man, dass diese Fähigkeit für gewöhnlich mit dem Alter nachlässt. Älteren Menschen fällt die räumliche Orientierung meist schwerer als jüngeren Personen, besonders in ungewohnter Umgebung. Mit dem Alter steigt daher die Wahrscheinlichkeit, sich zu verlaufen.“
Studie im virtuellen Raum
Um den Ursachen dafür auf den Grund zu gehen, entwarfen Forscher des DZNE um Thomas Wolbers gemeinsam mit Fachleuten des US-amerikanischen Massachusetts Institute of Technology und der University of Texas at Austin ein spezielles Experiment: Insgesamt rund 60 kognitiv unauffällige junge und ältere Erwachsene, die mit „Virtual Reality“-Brillen ausgestattet wurden, mussten sich – unabhängig voneinander – innerhalb einer digital erzeugten Umgebung fortbewegen und orientieren. Gleichzeitig bewegten sich die Versuchspersonen auch physisch – und zwar entlang gewundener Wegstrecken. Unterstützt wurden sie dabei von einer Begleitperson, welche die jeweilige Probandin beziehungsweise den jeweiligen Probanden an die Hand nahm. Reale Fortbewegung führte dabei unmittelbar zu Bewegungen im virtuellen Raum. „Das ist zwar eine künstliche Umgebung, die aber Aspekte realer Situationen wiederspiegelt“, so Wolbers.
Während des Experiments wurden die Teilnehmenden mehrfach aufgefordert, die Entfernung zum Startpunkt des zurückgelegten Weges abzuschätzen und sich in dessen Richtung zu drehen. Die virtuelle Umgebung bot für eine Orientierung nur wenige optische Anhaltspunkte, weshalb sich die Testpersonen im Wesentlichen auf andere Eindrücke verlassen mussten. „Wir haben uns angeschaut, wie genau die Probanden ihre Lage im Raum beurteilen konnten und damit die sogenannte Pfadintegration getestet. Also die Fähigkeit zur Positionsbestimmung aufgrund des Körpergefühls und der Wahrnehmung der eigenen Bewegung. Die Pfadintegration gilt als zentrale Funktion der räumlichen Orientierung“, erklärt Wolbers.
„Verrauschtes“ Modell
Ebenso wichtig wie die Versuchssituation war die mathematische Modellierung der Messdaten. Diese beruhte auf dem Ansatz, störende Einflüsse auf die Positionsbestimmung als Rauschen zu beschreiben. „Der menschliche Körper und seine Sinnesorgane sind keineswegs perfekt. Die Informationsverarbeitung im Gehirn wird daher von Störungen beeinflusst. Diese kann man als Rauschen auffassen. Das ist ähnlich wie beim Radio, wo Rauschen das eigentliche Signal überlagern kann“, so Wolbers. „Mit Hilfe unseres mathematischen Modells konnten wir die Beiträge verschiedener Störfaktoren entflechten und nachvollziehen, was die Positionsbestimmung am stärksten verfälscht und was nur geringen Einfluss hat. Mit dieser Präzision wurden solche Fehlerquellen bislang nicht untersucht.“
Beispielsweise die Körperdrehung in Richtung des Startpunkts des zurückgelegten Weges – das zeigte die Datenauswertung – geschah durchweg recht präzise. Und Gedächtnisfehler spielten praktisch keine Rolle. „Um die Lage im Raum zu bestimmen, während man sich fortbewegt, muss man seine Position gedanklich ständig aktualisieren. Dazu ist es nötig, sich daran zu erinnern, wo man sich kurz zuvor aufgehalten hat. Unsere Analyse fand hier nur minimale Fehler“, so Wolbers.
Auf das Tempo kommt es an
Fazit des Forschungsteams: Fehler in der Pfadintegration werden vor allem durch „akkumulierendes internes Rauschen“ in der Informationsverarbeitung verursacht – und dieses Phänomen ist vermutlich eine Folge von Ungenauigkeiten in der Wahrnehmung der Fortbewegungsgeschwindigkeit. „Man muss beachten, dass der Mensch zurückgelegte Entfernungen intuitiv daraus abschätzt, wie lange und wie schnell er vorher unterwegs war. Unsere Studie deutet jedoch darauf hin, dass die kritische Fehlerquelle für die Positionsbestimmung nicht die Zeitwahrnehmung ist, sondern es sind offenbar zufällig auftretende Schwankungen in den Geschwindigkeitsinformationen, die beim Gehirn ankommen“, meint Wolbers.
Diese Fehlerquelle war sowohl bei der jungen Versuchsgruppe dominant, deren Durchschnittsalter bei 22 Jahren lag, als auch bei der Gruppe der älteren Erwachsenen. Deren Durchschnittsalter betrug 69 Jahre. „Die jungen Versuchspersonen waren bei der Orientierung grundsätzlich besser als die älteren Studienteilnehmer. Tatsächlich nahm das akkumulierende interne Rauschen mit dem Alter zu. Dieses Phänomen ist offenbar Hauptursache für Defizite in der Pfadintegration und wahrscheinlich auch Auslöser altersbedingter Orientierungsprobleme. Wo genau der Ursprung dieses Rauschen liegt und warum es mit dem Alter anwächst, wissen wir aktuell noch nicht“, sagt Wolbers.
Früherkennung von Demenz
In vorherigen Studien hatten Wolbers und weitere Forschende des DZNE festgestellt, dass bei kognitiv gesunden, älteren Erwachsenen bestimmte Nervenzellen des entorhinalen Cortex – sogenannte Gitterzellen –, die für die räumliche Navigation wichtig sind, unregelmäßig feuern: Ihre Aktivität ist instabil. Dabei zeigte sich ein Zusammenhang mit altersbedingten Orientierungsschwierigkeiten. Die aktuellen Ergebnisse lassen vermuten, dass diese Instabilitäten nicht auf Fehlfunktionen der Gitterzellen zurückgehen, sondern durch Rauschen von außen aufgeprägt werden. Das Problem lege demnach nicht in den Gitterzellen, sondern im Informationsfluss, der auf den entorhinalen Cortex einströmt. Damit deutet sich eine Möglichkeit zur Früherkennung von Alzheimer an.
„Eine Alzheimer-Erkrankung geht bereits im frühen Stadium mit Schäden am entorhinalen Cortex einher. Daher liegt die Vermutung nahe, dass Orientierungsstörungen, wie sie infolge von Alzheimer auftreten, ihren Ursprung in diesem Hirnbereich haben. Anders als altersbedingte Orientierungsschwierigkeiten, wie unsere aktuelle Studie andeutet“, erläutert Wolbers. „Hier könnte sich die Chance bieten, normale, also alterstypische Orientierungsprobleme von solchen zu unterscheiden, die durch eine Alzheimer-Erkrankung verursacht werden. Langfristig geht es uns darum, Diagnoseverfahren zu entwickeln, die Alzheimer frühzeitig erkennen. Das könnte mittels geeigneter Technik, wie der Virtual Reality möglich sein. Wir haben dazu klinische Studien in Vorbereitung.“
Quellenangabe: Pressemitteilung DZNE – Sources of path integration error in young and aging humans, Matthias Stangl et al., Nature Communcations (2020), DOI: 10.1038/s41467-020-15805-9 / URL: https://www.nature.com/articles/s41467-020-15805-9
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