Macht Lesen ohne mentale Bilder Freude?

Die Rolle der visuellen Vorstellungswelt beim Lesen von Geschichten: Erkenntnisse aus der Aphantasie

Macht Lesen ohne mentale Bilder Freude?

21.02.2024 Wenn Menschen ein Buch lesen, stellen sie sich die Geschichte normalerweise in ihrem Kopf vor. Wie aber erleben Menschen eine Geschichte, wenn sie sich das Beschriebene nur schwer oder gar nicht vorstellen können? Die Kognitionswissenschaftlerin Laura Speed und ihre Kollegen fanden in einer ersten Studie über das Lesen bei Menschen mit sogenannter Aphantasie heraus, dass diese zwar nicht weniger Freude am Lesen haben, sich aber weniger auf eine Geschichte einlassen.

Die meisten Menschen, die ein Buch lesen, sind in die Welt der Geschichte vertieft. Das macht sich an ihrer Enttäuschung bemerkbar, wenn die Figuren in einer Verfilmung anders aussehen, als sie es sich vorgestellt haben. Menschen mit Aphantasie, einer erst 2015 „entdeckten“ Erscheinung, haben Schwierigkeiten oder sind gar nicht in der Lage, visuelle Bilder von Konzepten, Objekten oder Szenen zu erzeugen oder Erinnerungen auf visuelle Art und Weise abzurufen. Schätzungsweise 5 % der Weltbevölkerung sind von dieser Bedingung betroffen.

Es wird angenommen, dass visuelle Bilder an verschiedenen kognitiven Prozessen beteiligt sind, darunter auch an der Sprachverarbeitung. Wenn wir zum Beispiel das Wort „rot“ hören, entsteht in unserem Kopf ein Bild dieser Farbe. Studien mit bildgebenden Verfahren des Gehirns haben gezeigt, dass visuelle Teile des Gehirns beim Sprachverstehen aktiviert werden.

„Interessanterweise berichten Menschen mit Aphantasie nicht über Beeinträchtigungen ihrer Sprachkenntnisse“, sagt die Sprachwissenschaftlerin Laura Speed. „Es ist nicht so, dass eine Person, die sich ‚rot‘ nicht visuell vorstellen kann, das Wort nicht verstehen kann. Aber die visuelle Vorstellungskraft ist damit verbunden, wie jemand eine Geschichte erlebt“.

Tauchen weniger in die Welt der Geschichte ein

In ihrer in der Zeitschrift Consciousness and Cognition veröffentlichten Studie baten Speed und ihre Kollegen Lynn Eekhof und Marloes Mak 47 Personen mit Aphantasie und 51 Personen ohne Aphantasie, eine kurze fiktive Geschichte zu lesen. Um festzustellen, ob eine Person von Aphantasie betroffen ist, wurde ein bewährter Fragebogen zu visuellen Bildern verwendet. Anschließend sollten die Teilnehmer Fragen zu ihren Erfahrungen mit der Geschichte sowie zu ihren allgemeinen Lesevorlieben und -gewohnheiten beantworten.

Es hat den Anschein, dass Menschen mit Aphantasie weniger in die Welt der Geschichte eintauchen und eine geringere emotionale Bindung zu den Figuren empfinden, so Speed. Darüber hinaus wurden Beschreibungen von Schauplätzen und Handlungen von Menschen mit Aphantasie weniger geschätzt als von der Kontrollgruppe. „Aber überraschenderweise unterschieden sich die Gruppen nicht darin, wie sehr sie die Geschichte genossen.“

Außerdem gaben beide Gruppen an, die gleiche Anzahl von Büchern pro Jahr zu lesen, und sie scheinen auch ähnliche Genres der Belletristik zu mögen. Einige der Aphantasten gaben sogar an, selbst Belletristik zu schreiben.

Andere Wege

Visuelle Bilder sind also wichtig, um sich in eine Geschichte zu vertiefen, aber auch Menschen mit schwacher oder gar keiner visuellen Vorstellungskraft lesen gerne. „Es scheint, dass visuelle Bilder nicht der einzige Weg sind, eine Geschichte zu genießen. Die Handlung oder der Sprachstil zum Beispiel erfordern im Gegensatz zu Landschaftsbeschreibungen keine starken visuellen Bilder“, sagt Speed.

„Aphantasiker in unserer Studie gaben an, dass sie diese Aspekte zu schätzen wussten, nicht aber Beschreibungen von Landschaften. Es gibt also – neben der visuellen Vorstellungskraft – noch andere Wege, um eine Geschichte zu genießen und die Sprache zu verstehen. Was für die einen funktioniert, muss nicht unbedingt auch für die anderen gelten. Es ist wichtig, diese Vielfalt der Leseansätze zu erforschen und zu verstehen.“

© Psylex.de – Quellenangabe: Consciousness and Cognition (2024). DOI: 10.1016/j.concog.2024.103645

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