09.09.2024 Wenn wir unsere Augen öffnen, dann fällt es uns ganz leicht, die verschiedene Objekte, Menschen und Tiere um uns herum zu sehen. Bisher war die weitreichende Forschungsmeinung, dass ein ganz wesentliches Ziel unserer Wahrnehmung ist, Objekte zu erkennen und verschiedenen Kategorien zuzuordnen – zum Beispiel, ob dieses Objekt vor uns ein Hund ist und ob ein Hund zur Kategorie der Tiere zählt. Forschende vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und der Justus-Liebig-Universität Gießen in Zusammenarbeit mit den National Institutes of Health in den USA konnte nun zeigen, dass dieses Bild unvollständig ist. In einer aktuellen Studie im Fachjournal Nature Human Behaviour schreiben sie, dass sich die Hirnaktivität beim Sehen von Objekten viel besser mit einer Vielzahl verhaltensrelevanter Dimensionen erklären lässt.
Bisher dachte man, dass das visuelle System in unserem Gehirn die gesehenen Objekte in sehr grundlegende Merkmale zerlegt und dann nach und nach wieder zusammensetzt, mit dem Ziel, deren Erkennen zu ermöglichen. „Unsere Ergebnisse haben gezeigt, dass Erkennen und Kategorisieren zwar wichtige Ziele unseres Sehens sind, aber bei weitem nicht die einzigen.“, sagt Letztautor Martin Hebart, Gruppenleiter am MPI CBS und Professor an der Justus-Liebig-Universität. „Tatsächlich finden wir verhaltensrelevante Signale an allen Verarbeitungsstufen im visuellen System. Dies konnten wir aus der Analyse der von uns entdeckten verhaltensrelevanten Dimensionen ableiten.“ Im Vorfeld hatten die Forscher mit einem Computermodell aus Verhaltensdaten von über 12.000 Studienteilnehmer*innen 66 Objektdimensionen identifiziert. Diese Dimensionen erklären nicht nur Kategorisierung, also ob ein Hund ein Tier ist, sondern decken auch andere Eigenschaften ab, wie zum Beispiel Farben und Formen, aber auch graduelle Werte, zum Beispiel wie typisch ein Hund ist für ein Tier. Martin Hebart: „Damit konnten wir viel besser erklären, wie unser Gehirn es uns ermöglicht, die Objekte in unserer Umgebung wahrzunehmen und deren Bedeutung zu verstehen.“
Dafür schaute sich Erstautor Oliver Contier die Daten von drei Studienteilnehmer*innen an, deren Hirnaktivität im MRT-Scanner über 15 Sitzungen hinweg gemessen wurde, während diese über 8.000 verschiedene Objektbilder von 720 Objekten sahen. Er beschreibt die Ergebnisse: „Sahen die Teilnehmenden zum Beispiel eine Rakete, konnten wir anhand der Hirnaktivität messen, dass ihr visuelles System nicht nur erkannte, dass es sich um eine Rakete handelte oder dass eine Rakete ein Fahrzeug ist, sondern auch, dass sie grau und länglich ist, mit Feuer zu tun hat, fliegen kann, oder funkelt. Alle Verarbeitungsstufen unseres Wahrnehmungssystems sind also daran beteiligt, ein breites Spektrum an verhaltensrelevanten Eigenschaften zu erfassen, die zusammen unsere Wahrnehmung ausmachen.“
Martin Hebart ergänzt: „Unsere Arbeit zeigt einen mehrdimensionalen Rahmen auf, der mit der reichen und vielfältigen Verhaltensrelevanz von Objekten übereinstimmt. So lässt sich letztendlich unser breites Spektrum an menschlichen Verhaltensweisen besser erklären als mit dem Ansatz der reinen Kategorisierung, und das ist wiederum von entscheidender Bedeutung für das Verständnis, wie wir unsere visuelle Welt wahrnehmen und auf sinnvolle Weise mit ihr umgehen.“
Contier, O., Baker, C.I. & Hebart, M.N. Distributed representations of behaviour-derived object dimensions in the human visual system. Nat Hum Behav (2024). https://doi.org/10.1038/s41562-024-01980-y
Quellenangabe: Pressemitteilung Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften