Religion: Opium fürs Volk? – Religionspsychologie

Religiosität macht arme Menschen glücklicher

23.09.2021 In einer neuen Studie untersucht ein internationales Forschungs­team den Zusammenhang zwischen sozialer Klasse, psychischem Wohlbefinden und Religiosität. Das Ergebnis: Religiosität kann durch Armut verursachte psychische Belastungen abfedern oder gar wettmachen. Die Studie legt außerdem nahe, dass mit fortschreitender Säkularisierung ein niedriges Einkommen immer gravierendere Effekte auf das Wohlbefinden haben wird.

Pressemitteilung vom 23. September 2021
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Seit Jahrzehnten geht die sozial­wissenschaft­liche Forschung davon aus, dass ein niedriges Einkommen sich negativ auf das psychische Wohlbefinden von Menschen auswirkt. Bisher nahm man an, dass dieser Effekt schwächer wird, wenn Länder sich wirtschaft­lich weiterentwickeln. Das Gegenteil ist aber der Fall: Ein niedriges Einkommen wirkt sich in reichen Ländern stärker auf die Lebens­zufriedenheit der Menschen aus als in Entwicklungs­ländern. Die Gründe für diese unerwartete Beobachtung waren bisher unklar. Da die Bewohnerinnen und Bewohner von wirtschafts­starken Ländern im Durchschnitt weniger religiös sind als jene von ärmeren Ländern, hat ein internationales Forschungs­team unter Federführung von Prof. Dr. Jochen Gebauer und Jana Berkessel von der Mannheimer Heisenberg-Professur für Kulturvergleichende Sozial- und Persönlichkeits­psychologieden Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status, psychischem Wohlbefinden und Religiosität untersucht. Das Ergebnis: Ärmere Menschen sind immer weniger zufrieden als ihre reicheren Mitbürgerinnen und Mitbürger. In armen und religiösen Ländern ist dieser Effekt aber deutlich weniger ausgeprägt als in den westlichen Industrienationen, in denen Religion eine kleinere Rolle spielt.

Die Wissenschaft­lerinnen und Wissenschaft­ler führen diese Er­kenntnisse auf die Normen zurück, die mit dem Glauben der Menschen verbunden sind: Die meisten Weltreligionen, wie das Christentum und der Islam, sehen Reichtum kritisch und messen einem einfachen Leben eine positive Bedeutung zu. So verspricht zum Beispiel der Koran, dass arme Menschen 500 Jahre vor reichen ins Paradies eingelassen werden. Eine arme Person in einem religiösen Land lebt also in einem Umfeld, das ein positives Bild von Armut zeichnet. Dadurch wird das psychische Wohlbefinden vor den negativen Konsequenzen der Armut geschützt – ganz im Gegensatz zum Wohlbefinden einer armen Person in einem nicht religiösen Land, in dem diese schützenden religiösen Normen schlichtweg fehlen. „Der Glaube federt die Auswirkungen von Armut ab, indem er den betroffenen Menschen Trost und Zuversicht spendet“, sagt Psychologin Berkessel. „Gleichzeitig wird in religiöseren Ländern monetärem Reichtum ein geringerer gesellschaft­licher Wert zugemessen.“

Die Ergebnisse der Studie lassen vermuten, dass mit fortschreitender Säkularisierung die negativen Effekte von niedrigem Einkommen zunehmend stärker werden. Berkessel warnt deshalb davor, die Funktion von Religion für das gemeinschaft­liche Miteinander bei zukünftigen politischen Entscheidungen zu unterschätzen: „Durch den Wegfall der Religiosität werden wir zukünftig andere Ansätze zur Behebung der psychischen Belastungen, die ein niedriges Einkommen mit sich bringen kann, benötigen.“ Andere Institutionen müssten die Lebens­zufriedenheit der Angehörigen niedriger sozialer Klassen sicherstellen. Zum Beispiel ein umfangreicher Sozialstaat, wie er in skandinavischen Ländern zu finden ist, könnte die Abnahme der Religiosität kompensieren.

Zur Studie
Die Basis der Studie bilden Daten aus dem repräsentativen Gallup World Poll, dem Gosling-Potter Internet Personality Project und der World Values Survey. Die Studie umfasst somit Daten von mehr als 3,3 Millionen Personen aus mehr als 150 Ländern, die zwischen 1981 und 2017 erhoben wurden.

Originalpublikation:
National religiosity eases the psychological burden of poverty.
Jana B. Berkessel, Jochen E. Gebauer, Mohsen Joshanloo, Wiebke Bleidorn, Peter J. Rentfrow, Jeff Potter, Samuel D. Gosling
Proceedings of the National Academy of Sciences Sep 2021, 118 (39) e2103913118; DOI: 10.1073/pnas.2103913118

Link zur Originalpublikation: https://www.pnas.org/content/118/39/e2103913118

Quellenangabe: Pressemitteilung Universität Mannheim

Beiträge zu “Religion: Opium fürs Volk? – Religionspsychologie”

  1. „Durch den Wegfall der Religiosität werden wir zukünftig andere Ansätze zur Behebung der psychischen Belastungen, die ein niedriges Einkommen mit sich bringen kann, benötigen.“

    Das sehe ich auch so, und ein höheres Einkommen wäre (neben mehr Sozialstaat) schon mal die naheliegendste Lösung. Wenn wir in einem Land Leben wollen, in dem die sozialen Konflikte nicht noch größer werden und die Begüterten sich nicht in sicher bewachte Areale zurückziehen müssen (wie in den USA), dann sollte man für eine gerechtere Verteilung der Ressourcen sorgen. Wenn wir das auch global verstehen und umsetzen, werden die Menschen ihre Länder nicht mehr verlassen und in ihrer Heimat bleiben wollen, zumindest solange der Meeresspiegel bzw. Hitze und Trockenheit sie nicht doch von dort vertreiben.

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