Das Miterleben von Gewalt schadet dem Gehirn älterer Heranwachsender, aber ‚transzendentes Denken‘ könnte ein Gegenmittel sein
15.07.2024 Heranwachsende, die sich mit sozialen Themen und Gewalt auf eine reflektiertere Art und Weise auseinandersetzen, zeigen eine größere Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit) gegenüber den Auswirkungen von Gewalt auf die Entwicklung ihres Gehirns, so die neuesten Ergebnisse von Forschern des CANDLE (USC Center for Affective Neuroscience, Development, Learning and Education). Die Studie wurde im Journal of Research on Adolescence veröffentlicht.
Mary Helen Immordino-Yang und ein Team von CANDLE-Forschern haben herausgefunden, dass Jugendliche, die sich auf ein ‚transzendentes Denken‘ einlassen, d. h. ein Denken, das über die Reaktion auf die Besonderheiten sozialer Situationen hinausgeht und auch umfassendere ethische, persönliche und gesellschaftliche Implikationen berücksichtigt, den negativen Auswirkungen von Gewalt auf ihre Gehirnentwicklung entgegenwirken können.
Gewalterfahrung von Jugendlichen und Gehirnentwicklung
Die Studie baut auf einer früheren Studie von Immordino-Yang auf, die den beunruhigenden Zusammenhang zwischen der Gewalterfahrung von Jugendlichen in ihrer Umgebung und ihrer Gehirnentwicklung aufzeigte.
In beiden Studien zeigten MRT-Gehirnscans von Jugendlichen, die in Gemeinden mit hoher Gewaltbelastung aufwuchsen, eine dünnere Hirnrinde in Teilen des Gehirns, die für das Empfinden von Stress und Schmerz sowie für Motivation, Urteilsvermögen und emotionale Verarbeitung zuständig sind.
Die neue Studie bestätigt, dass diese Zusammenhänge auch bei älteren Jugendlichen im Alter von 16 bis 18 Jahren bestehen, wenn sie Zeugen von Gewalt werden, bietet aber auch ein mögliches Gegenmittel. Die 55 Teilnehmer stammten alle aus sozioökonomisch schwachen Verhältnissen und lebten in städtischen Gebieten. Die Jugendlichen wurden zu ihrer Gewalterfahrung befragt und unterzogen sich zwei MRT-Gehirnscans, einem zu Beginn der Studie und einem zwei Jahre später.
Transzendentes Denken
Zum Zeitpunkt der ersten Scans sahen die Teilnehmer auch Mini-Dokumentarfilme über Jugendliche in gefährlichen Situationen und besprachen ihre Reaktionen in einem aufgezeichneten Interview, das später auf transzendentes Denken untersucht wurde.
Die abschließenden MRT-Scans zeigten, dass je mehr sich ein Jugendlicher mit transzendentem Denken beschäftigt hatte, desto stärker wuchs das Gehirn in verschiedenen Bereichen über die zwei Jahre hinweg, einschließlich der Bereiche, die am meisten von der Gewalt betroffen waren.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das transzendente Denken der Jugendlichen ihnen helfen könnte, die Auswirkungen der Gewalterfahrung auf ihre Gehirnentwicklung auszugleichen.
Stärkung der Resilienz
Daraus lässt sich schließen, dass dieses komplexe Denken, wenn Jugendliche die von ihnen erlebte Gewalt kontextualisieren und ihr einen Sinn geben, ihre Widerstandsfähigkeit stärkt und somit ihr Gehirn trotz der beobachteten Gewalt wachsen lässt.
Wenn die Jugendlichen darüber nachdenken konnten, warum Gewalt geschieht und was getan werden kann, um die Probleme an der Wurzel zu packen, zeigten sie unter anderem in ihrem anterioren cingulären Cortex eine Form von neuronaler Resilienz.
„Um es klar zu sagen: Wir haben herausgefunden, dass das Miterleben von Gewalt und Verbrechen in der Gemeinschaft, selbst bei älteren Jugendlichen, mit einem Volumenverlust von Schlüsselregionen ihres Gehirns im Laufe der Zeit verbunden war. In der Tat ließ das Miterleben von Gewalt Regionen ihres Gehirns ein wenig schrumpfen, ein Muster, das bei Menschen mit PTBS und bei Soldaten im Kriegseinsatz zu beobachten ist“, so Immordino-Yang.
„Gleichzeitig waren die Kinder nicht passiv betroffen – wenn sie uns zeigten, dass sie intensiv darüber nachdachten, warum diese Dinge passieren und was getan werden könnte, um die Welt für alle Beteiligten besser zu machen, vergrößerte diese Art des Denkens ihr Gehirnvolumen in denselben Hirnregionen. Gewalt war schlecht für sie, aber transzendentes und zivilgesellschaftlich orientiertes Denken war eine Art Gegenmittel, neurologisch gesehen.“
© Psylex.de – Quellenangabe: Journal of Research on Adolescence (2024). DOI: 10.1111/jora.12993