Kontrollierte Aggression/Gewalt: Neue Studie zeigt, dass Aggression aus erfolgreicher Selbstkontrolle entstehen kann
14.07.2023 Eine neue Studie eines Forschers der Virginia Commonwealth University hat ergeben, dass Aggression nicht immer das Ergebnis schlechter Selbstbeherrschung ist, sondern oft auch das Ergebnis erfolgreicher Selbstkontrolle sein kann, um größere Vergeltung zu üben.
Die neue Studie mit dem Titel „Aggression As Successful Self-Control“ (Aggression als erfolgreiche Selbstkontrolle) des korrespondierenden Autors Dr. David Chester, außerordentlicher Professor für Sozialpsychologie am Fachbereich Psychologie des VCU College of Humanities and Sciences, wurde in der Fachzeitschrift Social and Personality Psychology Compass veröffentlicht und nutzt eine Metaanalyse, um die Erkenntnisse aus Dutzenden von Studien aus Psychologie und Neurologie zusammenzufassen.
„Normalerweise erklären die Menschen Gewalt als Produkt mangelnder Selbstbeherrschung“, so Chester. „In der Hitze des Gefechts gelingt es uns oft nicht, unsere schlimmsten, aggressivsten Impulse zu unterdrücken. Aber das ist nur die eine Seite der Geschichte“.
Chesters Studie ergab nämlich, dass die aggressivsten Menschen keine Persönlichkeiten sind, die sich durch mangelnde Selbstdisziplin auszeichnen, und dass sich Trainingsprogramme zur Förderung der Selbstkontrolle nicht als wirksam erwiesen haben, um Gewaltbereitschaft zu verringern. Stattdessen fand die Studie zahlreiche Belege dafür, dass Aggression aus erfolgreicher Selbstbeherrschung entstehen kann.
Selbstkontrolle kann Aggression sowohl einschränken als auch fördern, je nach Person und Situation
Rachsüchtige Menschen neigen dazu, ihr Verhalten besser zu planen und ihre Selbstkontrolle zu verbessern, so dass sie die Befriedigung der „süßen“ Rache hinauszögern und ihre Zeit abwarten können, um denjenigen, die ihnen ihrer Meinung nach Unrecht getan haben, maximale Vergeltung zukommen zu lassen, so Chester. „Selbst psychopathische Menschen, die die Mehrheit der Gewalttäter ausmachen, zeigen oft eine robuste Entwicklung der hemmenden Selbstkontrolle im Laufe ihrer Teenagerjahre“.
Aggressives Verhalten ist zuverlässig mit einer erhöhten – und nicht nur einer verringerten – Aktivität im präfrontalen Kortex des Gehirns verbunden, einem biologischen Grundpfeiler der Selbstbeherrschung, so Chester. Die Ergebnisse machen deutlich, dass das Argument, Aggression sei in erster Linie das Ergebnis mangelnder Selbstbeherrschung, schwächer ist als bisher angenommen.
Diese Arbeit widerspricht der jahrzehntelang vorherrschenden Meinung in der Aggressionsforschung, wonach Gewalt beginnt, wenn die Selbstkontrolle aufhört, so Chester. „Stattdessen plädiert sie für eine ausgewogenere, nuanciertere Sichtweise, nach der Selbstkontrolle Aggression sowohl einschränken als auch fördern kann, je nach Person und Situation.
Vorsicht bei der Durchführung von Behandlungen, Therapien und Interventionen
Die Ergebnisse sprechen auch für mehr Vorsicht bei der Durchführung von Behandlungen, Therapien und Interventionen, die darauf abzielen, Gewalt durch Verbesserung der Selbstkontrolle zu verringern, so Chester.
Viele Maßnahmen zielen darauf ab, den Menschen beizubringen, ihre Impulse zu unterdrücken, aber dieser neue Ansatz zur Aggression deutet darauf hin, dass dies zwar bei einigen Menschen die Aggression verringern, bei anderen aber wahrscheinlich auch die Aggression verstärken kann, sagte er. „Es kann sogar sein, dass wir einigen Menschen beibringen, wie sie ihre aggressiven Tendenzen am besten ausleben können.“
Die Ergebnisse überraschten Chester, einen Psychologen, dessen Team sich mit den Ursachen der menschlichen Aggression befasst.
„Im Laufe der Jahre wurde ein Großteil unserer Forschung von der Annahme geleitet, dass Aggression ein impulsives Verhalten ist, das durch mangelnde Selbstbeherrschung gekennzeichnet ist“, sagte er. „Als wir jedoch begannen, die psychologischen Merkmale rachsüchtiger und psychopathischer Menschen zu untersuchen, wurde uns schnell klar, dass solche aggressiven Personen nicht nur Defizite bei der Selbstregulation haben; sie verfügen über viele psychologische Anpassungen und Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichen, andere durch den Einsatz von Selbstkontrolle zu verletzen.“
Chester und sein Team planen, auf der Grundlage der Ergebnisse der Studie weitere Untersuchungen zum Thema Aggression und Selbstkontrolle durchzuführen.
Unsere künftige Forschung wird nun von diesem neuen Paradigmenwechsel geleitet: dass Aggression oft das Produkt ausgeklügelter und komplexer mentaler Prozesse ist und nicht nur von ungehemmten Impulsen, sagte Chester.
© Psylex.de – Quellenangabe: Social and Personality Psychology Compass (2023). DOI: 10.1111/spc3.12832
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