Alterskriminalität: Wenn Senioren straffällig werden
28.04.2022 Alterskriminalität ist eine ernste Herausforderung, vielschichtiger als angenommen und wenig untersucht. Das Phänomen der Devianz im Alter, also des regelabweichenden Verhaltens von Senioren, wirft viele Fragen auf, denen eine Forschungsgruppe um HM-Professor Stefan Pohlmann nachging.
Als Alterskriminalität bezeichnet man gemeinhin alle Formen von Straftaten, die von Personen über 60 Jahren verübt werden oder die zu einem Strafprozess im höheren Alter führen. Hinzu kommen Fälle, die eine Haft im oder bis zum hohen Alter umfassen. In Wissenschaft und Praxis haben diese Themen bislang allenfalls marginale Beachtung gefunden. Dabei ist Alterskriminalität ein Phänomen mit steigender Tendenz. In Zukunft könnte – angesichts des Anstiegs der Zahl alter Menschen durch die zunehmende Lebenserwartung bei einem weitgehend aktiven Lebensstil und dem gleichzeitigen Rückgang der Geburtenraten – die Zahl krimineller Senioren jene der Heranwachsenden übertreffen. Noch ist ein solcher Trend allerdings nicht erreicht.
Typische Verstöße der Altersgruppe 60plus
Dass ältere Menschen vor Gericht stehen, ist nicht neu. Beispielsweise lassen sich hierzu Prozesse zur NS-Aufarbeitung oder zu Kriegsverbrechen verfolgen, in jüngerer Zeit auch Fälle von Übergriffen im Rahmen von #MeToo sowie zum Missbrauchsskandal der katholischen und evangelischen Kirche. Doch das sind lediglich durch die Medien stark verbreitete Einzelfälle.
Was sind aber typische Verstöße dieser Altersgruppe? Das Forschungsteam um Prof. Dr. Stefan Pohlmann von der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München untersuchte hierzu die Polizeiliche Kriminalstatistik. Für das Jahr 2019 ergaben sich deutschlandweit insgesamt um die 155.000 Tatverdächtige im Alter von 60 und mehr Jahren. Pohlmann führte dazu ergänzende Befragungen durch. Das Ergebnis: Die höchsten Zahlen an Tatverdächtigen gibt es im Bereich der Diebstahldelikte, es folgen Beleidigungen, leichte Körperverletzungen und Betrug.
Subjektive Tatmotive als Rechtfertigung
Zur Einschätzung krimineller Handlungen älterer Menschen ist es wesentlich, die zugrundeliegenden Tatmotive zu sondieren. Auf der Grundlage der Analyse von Dokumenten und mittels explorativer Befragungen älterer Strafgefangener identifizierte das Team um Pohlmann sieben subjektive Rechtfertigungskategorien: darunter Langeweile und die damit verbundene Sehnsucht nach Spannung, Ablenkung und Nervenkitzel (thrill) sowie existenzielle Not oder die persönliche Angst vor einem sozialen Abstieg (affliction). Weitere Motive sind kognitive Veränderungen oder psychische Störungen (disorder), Rache und Selbstjustiz (revenge), unzureichende Einschätzung der Rechtswidrigkeit des eigenen Verhaltens (pseudo rationality) sowie die aktive Provokation einer Straftat, da die alltäglichen Lebensumstände gegenüber dem Strafvollzug weniger attraktiv ausfallen (active choice). Schließlich führt ein kriminelles Umfeld (environment) zu Straftaten. Betrachtet man die Heterogenität dieser Tatauslöser, lässt sich kein einzelner, universell gültiger Erklärungsansatz für Devianz im Alter geben. Was genau Straftäter im Alter antreibt, ist also höchst individuell.
Ältere Menschen in Haft
Ein besonderes Augenmerk schenkte die Forschungsgruppe den Anforderungen an die Vollzugsgestaltung. Denn die Tatsache, dass die Menschen in Deutschland immer älter werden, stellt auch den Justizvollzug vor Herausforderungen. So waren zum Stichtag des 30. September 2020 circa 620 Gefangene und Sicherungsverwahrte über 60 Jahren in bayerischen Justizvollzugsanstalten inhaftiert. Von einer weitgehenden Zentralisierung der älteren Gefangenen in einer einzigen Justizvollzugsanstalt sah Bayern im Interesse der Resozialisierung bislang ab.
Dafür werden gleichaltrig Inhaftierte häufig in Gemeinschaftsräumen untergebracht. Zudem wurden in verschiedenen Anstalten Anstrengungen unternommen, um körperlich beeinträchtigte Gefangene betreuen zu können – etwa mit einer eigenen Pflegeabteilung in der JVA Straubing oder einer geriatrischen Abteilung in der JVA Marktredwitz. Von einem steigenden Bedarf an diesen Angeboten wird ausgegangen. Daher ist es die Aufgabe der Landesjustizverwaltungen, im engen Austausch mit Wissenschaft und Praxis, die notwendigen Anpassungen auf den Weg zu bringen: Das betrifft eine ausreichende bauliche und personelle Ausstattung der Justizvollzugsanstalten sowie passende Behandlungskonzepte für ältere Inhaftierte, die laufend weiterzuentwickeln sind.
Gerontokriminologische Handlungsbedarfe
Bereits die typischen Verstöße, die Tatmotive und Haftbedingungen älterer Menschen zeigen: Die Fachdiskurse zur Alterskriminalität sind vielfältig und bisherige Theorien zur Kriminalität lassen sich nur bedingt auf die Kriminalität von Senioren anwenden. Woran es bezogen auf Alterskriminalität vor allem fehlt, sind hinreichende Präventionsansätze sowie schlüssige Resozialisierungsprogramme. Will man diesbezüglich Fortschritte erzielen, muss die Alterskriminalität im Sinne einer handlungsfähigen und zugleich alternden Gesellschaft weiter erforscht werden. Der neu erschienene Sammelband der Forschungs- und Praxisallianz um Pohlmann bietet Material und Argumente, um künftig neue Wege zu beschreiten.
Prof. Dr. Stefan Pohlmann
Stefan Pohlmann ist seit 2004 Professor für Gerontologie an der Hochschule München. Der habilitierte Psychologe leitet dort die Abteilung für interdisziplinäre Gerontologie und vertritt als Dekan die Interessen der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften.
Quellenangabe: Pressemitteilung Hochschule München