Welche Formen von Deprivation die Entwicklung am stärksten beeinflussen

04.11.2022 Es ist bekannt, dass frühe negative Erfahrungen aufgrund von Armut, Missbrauch und Vernachlässigung die kognitive und emotionale Entwicklung von Kindern beeinträchtigen.
Eine in der Zeitschrift Psychological Science veröffentlichte Forschungsarbeit erweitert die bisherigen Erkentnisse, indem sie darauf hinweist, dass Erfahrungen von Entbehrung und Bedrohung die psychologische Entwicklung von Kindern unterschiedlich beeinflussen können. Das heißt, dass frühe Deprivationserfahrungen, wie elterliche Vernachlässigung und finanzielle Schwierigkeiten, offenbar stärker mit dem kognitiven und emotionalen Funktionieren im Jugendalter verbunden sind als frühe Bedrohungserfahrungen, wie z. B. Missbrauchserfahrungen.
„Ein breites Spektrum späterer Schwierigkeiten stand in engem Zusammenhang mit frühen Deprivationserfahrungen, wie Vernachlässigung oder Aufwachsen in einem verarmten Umfeld. Dazu gehören sowohl Ergebnisse, die klassischerweise einen spezifischen Zusammenhang mit Deprivation aufweisen, wie z. B. geringere Leistungen bei Intelligenztests, als auch andere Ergebnisse, wie z. B. ein ungünstiger Umgang mit Emotionen oder Konflikte mit anderen“, so Sofia Carozza, die diese Untersuchung zusammen mit Joni Holmes und Duncan E. Astle von der Universität Cambridge durchführte.
Die Studie
Die Forscher analysierten vorhandene Daten aus einer Längsschnittstudie mit 14.062 Personen, die zwischen April 1991 und Dezember 1992 im Vereinigten Königreich geboren wurden. Sie untersuchten insbesondere, wie sich die von den Müttern berichteten negativen Erfahrungen der Kinder in den ersten sieben Lebensjahren auf ihre kognitive und emotionale Entwicklung im Jugendalter auswirkten.
In den ersten sieben Jahren berichteten die Mütter, wie ihr Kind Bedrohungen wie sexuellem Missbrauch, körperlicher Misshandlung, körperlicher und emotionaler häuslicher Gewalt sowie körperlicher und emotionaler elterlicher Grausamkeit ausgesetzt war, und wie es Entbehrungen wie einem Wechsel der Hauptbezugsperson, einer Trennung der Eltern, elterlicher Vernachlässigung und finanziellen Schwierigkeiten ausgesetzt war.
Als die Kinder 15 Jahre alt waren, bewerteten die Forscher ihre kognitiven Fähigkeiten anhand der Bereiche Wortschatz und logisches Denken auf der Wechsler Abbreviated Scale of Intelligence und einer Stoppsignalaufgabe. Bei dieser Aufgabe wird die Hemmungskontrolle getestet, indem die Teilnehmer angewiesen werden, einen von zwei Knöpfen zu drücken, wenn ein visueller Reiz (ein Bild des Buchstabens „X“ oder „O“) auf dem Bildschirm erscheint, es sei denn, auf diesen Reiz folgt ein Piepton; in diesem Fall sollten sie ihre Reaktion unterdrücken und nichts tun.
Als die Kinder 16 Jahre alt waren, berichteten die Mütter über die emotionale Entwicklung ihrer Kinder mit Hilfe des Fragebogens zu Stärken und Schwierigkeiten (Strengths and Difficulties Questionnaire). Dieser Fragebogen enthält Fragen zu internalisierenden Problemen, wie z. B. Probleme mit Emotionen und Beziehungen zu Gleichaltrigen, und externalisierenden Problemen, wie z. B. Fehlverhalten und Hyperaktivität/Aufmerksamkeit, die das Kind in den letzten sechs Monaten erlebt haben könnte.
Im Alter von 17 Jahren absolvierten die Kinder außerdem eine N-Back-Aufgabe, bei der das Arbeitsgedächtnis gemessen wird, indem die Teilnehmer erkennen sollen, wann eine Zahl auf dem Bildschirm mit der Zahl übereinstimmt, die während der Aufgabe eine bestimmte Anzahl von Schritten zurück angezeigt wurde.
Intelligenz, kognitive Hemmung, internalisierende und externalisierende Probleme
Mithilfe einer Netzwerkanalyse fanden Carozza und Kollegen heraus, dass Jugendliche, die in den ersten sieben Jahren ihres Lebens mehr Deprivationserfahrungen gemacht hatten, bei der Messung von Intelligenz und kognitiver Hemmung schlechter abschnitten. Deprivation war auch stärker mit internalisierenden und externalisierenden Problemen der Kinder verbunden als Erfahrungen von Bedrohung.
Die bisherige Forschung ist sich uneinig darüber, ob Bedrohung und Deprivation eindeutig unterschiedliche Entwicklungsergebnisse bei Kindern vorhersagen, schreiben Carozza und Kollegen, aber ihre neuen Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Fokussierung auf die Deprivation den Forschern ein klareres Bild davon vermitteln könnte, wie kognitive und emotionale Defizite mit zunehmendem Alter entstehen können.
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Wirkung der Deprivation vom Alter des Kindes abhängig
Welche Formen von Deprivation die Entwicklung am stärksten beeinflussen, kann auch vom Alter des Kindes abhängen. In dieser Studie fanden Carozza und Kollegen heraus, dass jede im Kleinkindalter erlebte Form der Deprivation die kognitive und emotionale Entwicklung von Kindern signifikant beeinflusst, dass aber die elterliche Trennung in der frühen Kindheit (im Alter von 1,5 bis 5 Jahren) an Bedeutung verliert, und dass in der mittleren Kindheit (im Alter von 5 bis 7 Jahren) der einzige relevante Faktor der finanzielle Status der Familie zu sein scheint.
„Da es in der Kindheit verschiedene sensible Zeiträume für die Entwicklung neuronaler und verhaltensbezogener Merkmale gibt, könnte die Verengung des Deprivationsclusters die unverhältnismäßigen Auswirkungen bestimmter Formen von Widrigkeiten in früheren Entwicklungsstadien widerspiegeln“, schreiben die Forscher.
Obwohl diese Ergebnisse darauf hindeuten, dass Deprivation einen stärkeren Zusammenhang mit der emotionalen und kognitiven Entwicklung von Kindern hat als die Erfahrung von Bedrohung, bedeutet das nicht, dass Bedrohung nicht zu einigen dieser Ergebnisse beiträgt, betonte Carozza in einem Interview.
„Es bedeutet vielmehr, dass es sinnvoll ist, die gesamte Landschaft der Erfahrungen zu betrachten, die Menschen in ihrer Kindheit gemacht haben, wenn wir verstehen wollen, wie ihr frühes Leben ihr heutiges Gedeihen prägt“, sagte sie.
© Psylex.de – Quellenangabe: Psychological Science (2022). DOI: 10.1177/09567976221101045