Machtdynamik in Familien, die vom elterlichen Entfremdungssyndrom betroffen sind
27.09.2021 Misshandlungen in Paarbeziehungen sind manchmal durch ein Machtungleichgewicht gekennzeichnet, bei dem die misshandelnde Partei die Kontrolle über die misshandelte aufrechterhält, indem er/sie deren finanzielle, soziale und andere Wahlmöglichkeiten einschränkt.
Dies wird als Nötigung bezeichnet, bei schwerer körperlicher Misshandlung auch als Körperverletzung. Doch was geschieht, wenn dieser Elternteil die Kinder des Paares als Kontrollmittel einsetzt?
Die Sozialpsychologin Jennifer Harman von der Colorado State University hat einen Großteil ihrer beruflichen Laufbahn darauf verwendet, durch wissenschaftliche Untersuchungen auf dieses Problem aufmerksam zu machen.
Eltern-Kind-Entfremdung vs. ’normale‘ Entfremdung
Eltern-Kind-Entfremdung bedeutet, dass ein Elternteil versucht, das Kind grundlos gegen den anderen Elternteil aufzubringen, in der Regel während einer Scheidung oder Trennung, und zwar durch Handlungen wie Schlechtmachen, Lügen, Schuldzuweisungen oder Belohnungen. Solche Verhaltensweisen führen zu einer elterlichen Entfremdung, bei der sich ein Kind aus ungerechten oder unwahren Gründen gegen einen Elternteil wendet.
Harman und Kollegen weisen darauf hin, dass es wichtig ist, die Eltern-Kind-Entfremdung von der Entfremdung zu unterscheiden, die vorliegt, wenn das Kind die Verbindung zu dem Elternteil aus legitimen Gründen wie Misshandlung oder Vernachlässigung abbricht. Eltern-Kind-Entfremdung liegt vor, wenn das Kind die Beziehung zu einem Elternteil abbricht, der zwar als Elternteil geeignet ist, dem aber ein falsches Bild vermittelt wurde.
Eine in der Fachzeitschrift Personal Relationships veröffentlichte neue Studie von Harman wendete die seit langem bestehende Interdependenztheorie auf die Machtdynamik in Familien an, die von Eltern-Kind-Entfremdung betroffen sind. Die Interdependenztheorie ist ein Ansatz zur Kategorisierung zwischenmenschlicher Beziehungen, der sich darauf konzentriert, wie die Folgen für jede Person von den Handlungen der anderen abhängen. Sie definiert, wie und warum Menschen innerhalb von Beziehungen bestimmte Entscheidungen treffen und wie Abhängigkeiten von anderen zu Machtungleichgewichten in Beziehungen führen können.
Asymmetrien der Macht
Die Studie, an der Harmans Doktorandin Caitlyn Grubb und der Forscher Christopher Maniotes von der University of Illinois mitgewirkt haben, basiert auf ausführlichen Interviews mit 50 Vätern und 29 Müttern, die von ihren Kindern entfremdet worden waren. Die meisten dieser Familien wiesen Machtasymmetrien zwischen den Eltern auf, was das Argument unterstreicht, dass Eltern-Kind-Entfremdung und zwangsweise kontrollierende Misshandlung bzw. häusliche Gewalt sich ähneln – zwei Seiten derselben Medaille, so Harman, und dass sie in Familiengerichtsverfahren ähnlich behandelt werden sollten.
Die Ergebnisse zeigen, dass Eltern-Kind-Entfremdung eher der häuslichen Gewalt durch Zwangskontrolle, Partnerterror und Körperverletzung ähnelt als anderen häufigeren Formen von Misshandlungen, wie z. B. der situativen Gewalt in der Partnerschaft, sagt Harman. Eltern-Kind-Entfremdung ist Missbrauch und sollte in die Gesetzgebung und Politik zum Schutz von Kindern aufgenommen werden, schreibt sie.
Machtasymmetrien durch alleiniges Sorgerecht
Entfremdende Eltern, die Kontrollstrategien wie Belästigung, Drohungen und Einschüchterung anwenden, schaffen ein Ungleichgewicht der Macht. Das sich daraus ergebende Klima entmachtet den anderen Elternteil, indem es ihm das Gefühl gibt, dass seine Verhaltensmöglichkeiten begrenzt sind und er befürchten muss, seine Kinder zu verlieren oder selbst verletzt zu werden.
In etwa 80 % der untersuchten Situationen kam es zu Machtasymmetrien, wobei einige dem Elternteil mit weniger Macht nur zwei begrenzte Optionen zur Verfügung stehen, die der entfremdende Elternteil anwendet, um die Kontrolle über die Erziehungsdynamik zu erlangen oder zu behalten. Die Forscher fanden auch heraus, dass solche Asymmetrien am häufigsten auftraten, wenn der entfremdende Elternteil das primäre oder alleinige Sorgerecht für die Kinder hatte.
Keine Geschlechterunterschiede
Die Arbeit von Harman und ihren Kollegen zeigt auch, dass die elterliche Entfremdung meist geschlechtsneutral ist; Väter und Mütter sind in etwa gleich häufig betroffen, auch wenn sie unterschiedliche Taktiken anwenden. Diese Geschlechtsneutralität deckt sich mit nationalen Statistiken über andere missbräuchliche Verhaltensweisen wie Stalking, körperliche und sexuelle Gewalt.
Die Kinder leiden
Auch wenn die Eltern-Kind-Entfremdung im Wesentlichen ein Missbrauch des Partners ist, leiden auch die Kinder darunter, so Harman. In einer kürzlich veröffentlichten Übersichtsarbeit erörterte sie die Verluste, die entfremdete Kinder erleiden, einschließlich Kindheitserfahrungen, Großfamilie, Gemeinschaft, Aktivitäten und Beziehungen.
© Psylex.de – Quellenangabe: Personal Relationships, 2021; DOI: 10.1111/pere.12392