Das Selbst im Auge des Betrachters: Wie wir uns ‚in Wahrheit‘ selbst sehen – durch Umkehrung der Beziehung

15.11.2021 Noch nie waren wir so besessen von unserem Aussehen wie im Zeitalter der „Selfies“. Viele behaupten, dass die Besessenheit von Selfies und die Manipulation von Bildern einige von uns zu Narzissten macht, während andere auch eine größere Unzufriedenheit mit ihrem Körperbild erleben könnten. Aber wie sehen wir uns eigentlich selbst vor unserem geistigen Auge?
Psychologen der Bangor University und der University of London haben eine Methode zur Visualisierung dieser mentalen „Selbstporträts“ entwickelt, die wir in unserem Kopf haben. Sie untersuchten, inwieweit diese inneren Bilder von dem abweichen können, was andere sehen, und zeigten, wie sie von unseren Überzeugungen über unsere Persönlichkeit und unser Selbstwertgefühl beeinflusst werden können.
Erstellung eines mentalen Selfies
In einem in der Zeitschrift Psychological Science veröffentlichten Artikel zeigen Dr. Lara Maister von der School of Human and Behavioural Sciences der Universität Bangor und Kollegen nicht nur auf, wie das Forscherteam einen Weg gefunden hat, um das mentale Bild anderer Menschen von sich selbst zu erforschen, sondern auch, um dieses Bild zum ersten Mal mit der Realität zu vergleichen und zu untersuchen, wie dieses Bild durch ihre Überzeugungen über ihre eigenen Charaktereigenschaften beeinflusst werden kann.
Bei den Untersuchungen des Teams wurden die mentalen Bilder der Teilnehmer von ihren eigenen Gesichtern mit Hilfe einer computergestützten Technik rekonstruiert, die in der Vergangenheit bereits zur Visualisierung der mentalen Wahrnehmung von Psychologen eingesetzt wurde.
Um ein mentales Selfie zu erstellen, sahen die Teilnehmer zwei zufällige Gesichter und müssen jedes Mal dasjenige auswählen, das ihrem eigenen Gesicht ähnlicher sieht – ein Vorgang, der mehrere hundert Mal wiederholt wurde. Am Ende konnten die Forscher den Durchschnitt aller Bilder ermitteln, von denen sie annahmen, dass sie ihnen am ähnlichsten sind – so konnten sie die „mentalen Selfies“ der Teilnehmer visualisieren.
Mentale Bilder waren nicht unbedingt realitätsgetreu
Interessanterweise fand das Team heraus, dass die mentalen Bilder der Menschen nicht unbedingt lebensecht waren, sondern vielmehr davon beeinflusst wurden, welche Art von Persönlichkeit sie zu haben glaubten.
Lara Maister vom Fachbereich der Universität Bangor und Hauptautorin der Studie sagt:
Wir baten die Teilnehmer, ihr eigenes computergeneriertes ‚mentales Selbstporträt‘ zu erstellen und außerdem Fragebogen zur Persönlichkeit und zum Selbstwertgefühl zu beantworten, um herauszufinden, für welchen Typ Mensch sie sich halten. Es zeigte sich, dass ihre Überzeugungen über sich selbst einen starken Einfluss darauf hatten, wie sie sich ihr eigenes Aussehen vorstellten. Wenn eine Person zum Beispiel glaubte, sie sei extrovertiert, stellte sie sich ihr eigenes Gesicht selbstbewusster und geselliger vor, als sie auf andere Menschen wirkte.
Professor Manos Tsakiris von der Royal Holloway University of London und dem Warburg Institute sagt:
Wenn wir ein neues Gesicht sehen, haben wir uns innerhalb des Bruchteils einer Sekunde ein Bild von dieser Person gemacht, basierend auf dem, was wir sehen. Unabhängig davon, ob diese Eindrücke richtig sind oder nicht, prägen sie unsere Meinung über die Persönlichkeit eines Menschen. Auf ähnliche, aber umgekehrte Weise haben wir nun gezeigt, dass unsere Eindrücke von unserem eigenen Charakter beeinflussen, wie wir uns selbst vor unserem geistigen Auge sehen.
Unrealistische mentale Bilder vom eigenen Körper
In einer zweiten Studie verwendete das Team den gleichen Ansatz, um die mentalen Bilder der Menschen von ihrer eigenen Körperform zu visualisieren. Sie fanden nicht nur heraus, dass die Menschen unrealistische mentale Bilder von ihrem eigenen Körper hatten, sondern dass diese mentalen Bilder stark von ihrer Einstellung zu sich selbst und nicht von ihrem tatsächlichen Aussehen beeinflusst wurden.
Menschen, die eine sehr negative emotionale Einstellung zu ihrem eigenen Aussehen hatten, neigten dazu, sich einen viel größeren Körper vorzustellen als in Wirklichkeit.
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Professor Matthew Longo von der Birkbeck University of London, der ebenfalls zu dem Forschungsteam gehörte, sagte:
Die Arbeit wird uns helfen, mehr über das Körperbild zu verstehen. Wir können jetzt zum ersten Mal einen Einblick in die Vorstellungen anderer Menschen über ihr Aussehen gewinnen, und zwar sowohl bei gesunden Menschen als auch bei Menschen, die unter Körperbildstörungen wie der Körperdysmorphie leiden.
Die Anpassung dieser Methode könnte Klinikern, die Menschen mit Körperbildstörungen betreuen, ein neues Instrument an die Hand geben, um den Erfolg von Therapien zu messen. Derzeit wird dies in der Regel anhand von Fragebogen beurteilt, in denen bewertet wird, ob sich die negativen Überzeugungen der Patienten über sich selbst geändert haben.
Die Entwicklung eines solchen Instruments könnte bewerten, ob sich auch das mentale Bild der Person von ihrem Aussehen verändert hat.
© Psylex.de – Quellenangabe: Psychological Science (2021). DOI: 10.1177/09567976211018618