Neuronale Reaktionsfähigkeit auf Belohnung und Bestrafung kurz nach einem Trauma sagt langfristige Entwicklung von posttraumatischen Stresssymptomen voraus
01.11.2021 Das Gehirn verfügt über verschiedene Schaltkreise, die positive oder belohnende Verhaltensweisen und negative oder aversive Verhaltensweisen beeinflussen.
Lange Zeit ging man davon aus, dass PTBS durch eine Überaktivität des negativen Valenzsystems (Wertigkeitssystem) entsteht.
Eine neue Studie zeigt jedoch, dass Menschen mit PTBS kurz nach dem Trauma auch ein Defizit bei der Aktivierung der positiven Valenzverarbeitung aufweisen, was darauf hindeutet, dass diese eine Rolle bei der Widerstandsfähigkeit (Resilienz) gegenüber PTBS spielt.
Die Arbeit ist in der Zeitschrift Biological Psychiatry: Cognitive Neuroscience and Neuroimaging veröffentlicht worden.
Die Studie
Unter der Leitung von Talma Hendler und Ziv Ben-Zion von der Universität Tel Aviv, Israel, untersuchten die Forscher 171 Personen, die wegen eines Traumas (z. B. wegen eines Autounfalls) in einer Notaufnahme eines Krankenhauses behandelt worden waren und innerhalb von zwei Wochen nach dem traumatischen Ereignis Symptome einer PTBS aufwiesen.
Einen Monat nach dem Trauma wurden die Betroffenen im Labor von einem geschulten klinischen Interviewer eingehender untersucht und Gehirnscans mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) durchgeführt. Die gleichen Untersuchungen wurden sechs Monate und 14 Monate nach dem Trauma durchgeführt.
Während der fMRT-Untersuchung spielten die Teilnehmer ein elektronisches Glücksspiel, mit dem die Sensibilität der Teilnehmer für Risiko, Belohnung und Bestrafung untersucht werden sollte.
Aktivitäten in Amygdala und Striatum
Es überrascht nicht, dass Teilnehmer mit schwereren PTBS-Symptomen zu Beginn der Studie weniger riskante Entscheidungen im Spiel trafen, und die fMRT-Scans zeigten, dass sie eine stärkere Aktivierung in der Amygdala aufwiesen – einer Hirnregion, die mit der Verarbeitung von Angst in Verbindung gebracht wird und ein wichtiger Teil des negativen Valenzsystems ist.
Eine verringerte Aktivität nach einem Monat im ventralen Striatum – einer mesolimbischen Gehirnregion, die an der Verarbeitung positiver Valenz wie Belohnungen beteiligt ist – sagte jedoch schwerere PTBS-Symptome nach 14 Monaten voraus.
Dr. Ben-Zion sagte, dass die Arbeit Einblicke in die Rolle sowohl des positiven als auch des negativen Valenzverarbeitungssystems bei der frühen Entwicklung der posttraumatischen Psychopathologie bietet.
Während sich die meisten bisherigen Forschungsarbeiten zu Stress und Trauma auf das hyperaktive negative Valenzsystem (z. B. verstärkte Angst- und Bedrohungsreaktionen) konzentriert haben, deuten die aktuellen Ergebnisse auch auf eine kritische Rolle für das hypoaktive positive Valenzsystem (z. B. geringere neuronale Aktivierung für Belohnungen) bei der PTBS-Entwicklung hin und weisen auf seine Rolle bei der Widerstandsfähigkeit gegenüber traumatischem Stress und/oder bei der adaptiven Erholung davon hin.
Bedeutung für Behandlung
Cameron Carter, Herausgeber von Biological Psychiatry: Cognitive Neuroscience and Neuroimaging sagte:
Diese Arbeit bietet neue Einblicke in die grundlegenden Veränderungen der Gehirnfunktion, die auf traumatische Erfahrungen folgen und der Entwicklung von PTBS zugrundeliegen. Die Studie zeigt uns, dass diese Veränderungen über die gestörte Verarbeitung von Bedrohungen hinausgehen und auch Gehirnsysteme umfassen, die mit Belohnung und Motivation zu tun haben und die wahrscheinlich den Veränderungen der Stimmung und des motivierten Verhaltens bei PTBS zugrundeliegen.
Die Arbeit könnte Auswirkungen auf therapeutische Strategien zur Behandlung von stress- und angstbedingten Störungen haben, sagte Hendler und fügte hinzu, dass neuartige therapeutische Ansätze sowohl die positiven als auch die negativen Valenzsysteme ansprechen sollten, da beide eng miteinander verbunden sind und beide die Entwicklung von Symptomen nach traumatischem Stress beeinflussen.
Darüber hinaus deuten die Ergebnisse darauf hin, dass spezifische Defizite in jedem Valenzsystem mit bestimmten Symptomen der PTBS in Verbindung stehen, was möglicherweise auf unterschiedliche zugrundeliegende psychische Prozesse hinweist, die zu einem stärker personalisierten Ansatz in der psychiatrischen Behandlung führen könnten.
© Psylex.de – Quellenangabe: Biological Psychiatry: Cognitive Neuroscience and Neuroimaging, 2021; DOI: 10.1016/j.bpsc.2021.09.001