Die Selbstwahrnehmung wird mit der Zeit unschärfer

Zeitliche Selbstverdichtung: Verhaltens- und neuronale Belege dafür, dass vergangene und künftige Formen des Selbst komprimiert werden, wenn sie sich von der Gegenwart entfernen

Die Selbstwahrnehmung wird mit der Zeit unschärfer

17.12.2021 Wenn man zwei Objekte aus der Nähe betrachtet, z. B. zwei Blätter, kann man sie leicht auseinanderhalten, aber wenn sie weiter weg sind, wird es schwierig, sie zu unterscheiden.

Die beiden Objekte werden „komprimiert“, ein Grundprinzip der Wahrnehmung. Laut einer neuen in den Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlichten Studie funktioniert unser Selbstkonzept auf die gleiche Weise.

Komprimierung des Selbst

Wenn man Sie zum Beispiel fragt, ob Sie glauben, dass sie morgen ruhiger sein werden als heute, ist es einfach beides zu vergleichen. Wenn man Sie aber fragt, ob Sie glauben, dass Sie in 10 oder 11 Tagen ruhiger sein werden, wird es viel schwieriger, zwischen den beiden Tagen zu unterscheiden.

Unser Selbstkonzept wird mit der Zeit immer unschärfer, je weiter man sich von der Gegenwart entfernt, sagt die Hauptautorin Meghan Meyer, Assistenzprofessorin für Psychologie und Gehirnwissenschaften. Je weiter man in der Vergangenheit oder in der Zukunft über sich selbst nachdenkt, desto weniger unterscheidbar ist die Version, die man von sich selbst hat.

Die Studien

Die Untersuchung umfasste vier Studien. In drei der Studien bewerteten die Teilnehmer entweder ihre eigenen Persönlichkeitsmerkmale oder berichteten über ihre Selbstwahrnehmung zu verschiedenen Zeitpunkten in der Vergangenheit und Zukunft. In ihnen komprimierten die Teilnehmer ihr vergangenes und zukünftiges Selbst im Vergleich zu ihrem gegenwärtigen Selbst.

In der vierten Studie wurde den Teilnehmern ein Paar von Persönlichkeitsmerkmalen vorgelegt, und sie sollten auswählen, welches Merkmal sie zu einem bestimmten Zeitpunkt besser beschrieb, während sie sich einem fMRT-Scan unterzogen. Anhand der Hirnbildgebung konnten die Forscher feststellen, wie das Gehirn die Repräsentationen des Selbst im Laufe der Zeit organisiert. Jedes Mal, wenn ein Studienteilnehmer an sich selbst in der Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft dachte, konnten die Forscher einen ‚Stempel‘ davon bekommen, wie sein Gehirn aussah. Diese Stempel waren immer weniger voneinander zu unterscheiden, je weiter die Teilnehmer über sich selbst in der Zukunft nachdachten.

Selbst auf der Ebene der Hirnaktivität sehen wir Hinweise darauf, dass unser vergangenes und zukünftiges Ich weniger unterscheidbar werden, wenn wir uns in der Zukunft sehen, sagt Meyer.

Zeitliche Selbstkompression

Die fMRT-Daten gingen konform mit den Ergebnissen der Persönlichkeitsbewertungen der Teilnehmer, was das Team als Effekt der „zeitlichen Selbstkompression“ bezeichnet. Die Forschung bietet eine neue Möglichkeit, darüber nachzudenken, wie wir unsere Identität im Laufe der Zeit organisieren, sagt Erstautorin Sasha Brietzke.

In der Psychologie ist allgemein bekannt, dass manche Menschen problematische Verhaltensweisen an den Tag legen, wenn sie über ihre Vergangenheit oder Zukunft nachdenken, z. B. jemand, der nicht genug für die Rente spart, weil er nicht so weit vorausdenken kann. Meyer sagt: Zukünftige Forschungen über den zeitlichen Selbstkompressionseffekt könnten helfen, diese Art von Verhalten zu erklären. Möglicherweise haben Menschen Schwierigkeiten, gute Entscheidungen für ihr zukünftiges Selbst zu treffen oder sich genau an ihre Vergangenheit zu erinnern, weil sie ihr fernes Selbst nicht klar vor Augen haben.

© Psylex.de – Quellenangabe: Proceedings of the National Academy of Sciences (2021). DOI: 10.1073/pnas.2101403118

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