Prospektive und retrospektive Parameter für die Misshandlung von Kindern und ihre Verbindung zur Psychopathologie
02.05.2024 Eine neue Analyse des Institute of Psychiatry, Psychology & Neuroscience am King’s College London hat ergeben, dass die bewusste Erinnerung einer Person an eine Misshandlung in der Kindheit stark mit der Psychopathologie verbunden ist.
In der in der Fachzeitschrift JAMA Psychiatry veröffentlichten Studie wurden Studien zu „retrospektiven“ und „prospektiven“ Messungen von Misshandlungen in der Kindheit und deren Zusammenhang mit der Psychopathologie – einer Sammlung von Symptomen, die von internalisierenden Problemen wie Depressionen und Ängsten bis hin zu externalisierenden Problemen wie antisozialem Verhalten und Drogenmissbrauch reichen – analysiert.
Retrospektive Messwerte beziehen sich auf subjektive Erinnerungen an Ereignisse in der Kindheit in der ersten Person, während sich prospektive Messwerte in der Regel auf Berichte von Dritten über Ereignisse in der Kindheit beziehen, z. B. aus Aussagen der Eltern oder offiziellen Aufzeichnungen.
Die Studie
In einer metaanalytischen Überprüfung von 24 Studien mit 15.485 Personen wurde festgestellt, dass die Psychopathologie stärker mit retrospektiven Messungen von Misshandlungen in der Kindheit assoziiert war als mit prospektiven Maßen, was darauf hindeutet, dass die persönlichen Erinnerungen an Missbrauch oder Vernachlässigung in jungen Jahren und die Bedeutungen, die wir ihnen beimessen, zur Psychopathologie im späteren Leben beitragen können.
„Unsere Ergebnisse stützen die Theorie, dass die individuelle Interpretation von Ereignissen, das bewusste Erinnern und die damit verbundenen Denkmuster stärker mit der Psychopathologie verbunden sind als die Ereignisse selbst“, sagt Dr. Jessie Baldwin vom UCL.
Kindesmisshandlung umfasst eine Reihe traumatischer Erfahrungen zwischen der Geburt und dem 18. Lebensjahr, darunter körperliche, sexuelle und emotionale Misshandlung oder körperliche und emotionale Vernachlässigung.
Die Forscher fanden heraus, dass die Zusammenhänge zwischen retrospektiven Messungen der Kindesmisshandlung und der Psychopathologie besonders stark waren, wenn die Bewertung der Psychopathologie auf Selbstberichten beruhte und sich auf emotionale Störungen wie Depressionen oder Angststörungen bezog.
Darüber hinaus zeigten retrospektive Berichte über emotionale Misshandlung stärkere Verbindungen zur Psychopathologie als retrospektive Berichte über andere Arten von Misshandlung.
Auswirkungen auf die Behandlung von psychischen Problemen
Die Forscher vermuten, dass die Ergebnisse wichtige Auswirkungen auf die Behandlung von psychischen Problemen haben könnten, die auf Misshandlung in der Kindheit zurückzuführen sind. Insbesondere wird die mögliche Rolle autobiografischer Erinnerungen an Misshandlung in der Kindheit hervorgehoben, die in den vorherrschenden Theorien über die Folgen von Misshandlung nicht untersucht wurde.
Die Autoren der Studie weisen darauf hin, dass die Assoziationen zwischen retrospektiven Messungen von Kindesmisshandlung und Psychopathologie, insbesondere bei emotionalen Störungen, aufgrund von Erinnerungsfehlern überzeichnet sein könnten.
So gibt es beispielsweise Hinweise darauf, dass eine Zunahme depressiver Symptome im Laufe der Zeit zu einem geringen Anstieg der retrospektiven Berichte über Misshandlungen führen kann. Andere neuere Forschungsergebnisse des Teams deuten jedoch darauf hin, dass eine Verzerrung des Erinnerungsvermögens die Ergebnisse nicht erklären kann, was darauf hindeutet, dass die individuellen Erinnerungen an Misshandlung zur Entwicklung von Psychopathologie beitragen können.
© Psylex.de – Quellenangabe: JAMA Psychiatry (2024). DOI: 10.1001/jamapsychiatry.2024.0818