Neue nicht-invasive tiefe Hirnstimulation bei Sucht, Depression und Zwangsstörung?

Transkranielle temporale elektrische Interferenzstimulation (tTIS) des menschlichen Striatums unterbricht das Verstärkungslernen von motorischen Fähigkeiten

Neue nicht-invasive tiefe Hirnstimulation bei Sucht, Depression und Zwangsstörung?

13.06.2024 Neuropsychologische Störungen wie Sucht, Depression und Zwangsstörungen betreffen Millionen von Menschen weltweit und sind oft durch komplexe Pathologien gekennzeichnet, die mehrere Hirnregionen und -schaltkreise betreffen. Die Behandlung dieser Erkrankungen ist bekanntermaßen schwierig, da die Hirnfunktionen vielschichtig und kaum erforscht sind, und es ist schwierig, Therapien in tiefen Hirnstrukturen vorzunehmen ohne invasive Eingriffe.

Auf dem sich rasch entwickelnden Gebiet der Neurowissenschaften ist die nicht-invasive Hirnstimulation eine neue Hoffnung für das Verständnis und die Behandlung einer Reihe von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen ohne chirurgische Eingriffe oder Implantate. Forscher unter der Leitung von Friedhelm Hummel, Inhaber des Defitchech-Lehrstuhls für klinisches Neuroengineering an der EPFL School of Life Sciences, und Pierre Vassiliadis, Postdoc, leisten Pionierarbeit auf diesem Gebiet und eröffnen neue Möglichkeiten zur Behandlung von Krankheiten wie Sucht und Depression.

Transkranielle temporale elektrische Interferenzstimulation (tTIS)

Ihre Forschung, die sich der transkraniellen temporalen elektrischen Interferenzstimulation (tTIS) bedient, zielt speziell auf tiefe Hirnregionen ab, die die Kontrollzentren mehrerer wichtiger kognitiver Funktionen darstellen und an verschiedenen neurologischen und psychiatrischen Pathologien beteiligt sind. Die in der Fachzeitschrift Nature Human Behaviour veröffentlichte Forschungsarbeit unterstreicht den interdisziplinären Ansatz, der Medizin, Neurowissenschaften, Computertechnik und Ingenieurwesen miteinander verbindet, um unser Verständnis des Gehirns zu verbessern und potenziell lebensverändernde Therapien zu entwickeln.

„Die invasive tiefe Hirnstimulation (DBS) wurde bereits erfolgreich an den tief sitzenden neuronalen Kontrollzentren angewandt, um die Sucht einzudämmen und Parkinson, Zwangsstörungen oder Depressionen zu behandeln“, sagt Hummel.

„Der Hauptunterschied zu unserem Ansatz besteht darin, dass dieser nicht-invasiv ist, d.h. wir verwenden eine schwache elektrische Stimulation auf der Kopfhaut, um diese Regionen zu erreichen.“

„Bislang konnten wir diese Regionen mit nicht-invasiven Techniken nicht gezielt ansprechen, da die schwachen elektrischen Felder alle Regionen zwischen dem Schädel und den tieferen Zonen stimulieren würden – was jegliche Behandlung unwirksam machen würde. Mit diesem Ansatz können wir selektiv tiefe Hirnregionen stimulieren, die bei neuropsychiatrischen Störungen wichtig sind“, erklärt er.

Magie der Interferenz

Die innovative Technik basiert auf dem Konzept der temporalen Interferenz. In diesem Experiment wird ein Elektrodenpaar auf eine Frequenz von 2.000 Hz eingestellt, während ein anderes auf 2.080 Hz eingestellt wird. Dank detaillierter Computermodelle der Gehirnstruktur werden die Elektroden spezifisch auf der Kopfhaut positioniert, um sicherzustellen, dass sich ihre Signale in der Zielregion kreuzen.

An diesem Punkt tritt die Magie der Interferenz ein: Der geringe Frequenzunterschied von 80 Hz zwischen den beiden Strömen wird zur effektiven Stimulationsfrequenz innerhalb der Zielzone.

Der Clou dieser Methode liegt in ihrer Selektivität: Die hohen Basisfrequenzen (z. B. 2.000 Hz) stimulieren die neuronale Aktivität nicht direkt, so dass das dazwischen liegende Hirngewebe unberührt bleibt und sich die Wirkung ausschließlich auf die Zielregion konzentriert.

Verstärkungslernen

Im Mittelpunkt dieser jüngsten Forschungsarbeiten steht das menschliche Striatum, eine Schlüsselrolle bei Belohnungs- und Verstärkungsmechanismen. „Wir untersuchen, wie das Verstärkungslernen, d. h. die Art und Weise, wie wir durch Belohnungen lernen, durch die gezielte Beeinflussung bestimmter Gehirnfrequenzen beeinflusst werden kann“, sagt Vassiliadis. Durch die Stimulation des Striatums mit einer Frequenz von 80 Hz konnte das Team die normale Funktion des Striatums stören, was sich direkt auf den Lernprozess auswirkte.

Das therapeutische Potenzial ihrer Arbeit ist immens, insbesondere bei Krankheiten wie Sucht, Apathie und Depression, bei denen Belohnungsmechanismen eine entscheidende Rolle spielen. „Bei der Sucht zum Beispiel neigen die Menschen dazu, sich übermäßig um Belohnungen zu bemühen. Unsere Methode könnte dazu beitragen, diese pathologische Überbewertung zu reduzieren“, erklärt Vassiliadis.

Darüber hinaus erforscht das Team, wie verschiedene Stimulationsmuster die Gehirnfunktionen nicht nur stören, sondern möglicherweise auch verbessern können.

Minimale Nebenwirkungen

„Dieser erste Schritt bestand darin, die Hypothese zu belegen, dass sich 80 Hz auf das Striatum auswirken, und das haben wir geschafft, indem wir seine Funktion gestört haben. Unsere Forschung zeigt auch, dass es vielversprechend ist, das motorische Verhalten zu verbessern und die Striatumaktivität zu erhöhen, insbesondere bei älteren Menschen mit eingeschränkten Lernfähigkeiten“, fügt Vassiliadis hinzu.

Hummel, ein ausgebildeter Neurologe, sieht diese Technologie als den Beginn eines neuen Kapitels in der Hirnstimulation, das eine personalisierte Behandlung mit weniger invasiven Methoden bietet. „Wir haben es hier mit einem nicht-invasiven Ansatz zu tun, der es uns ermöglicht, zu experimentieren und die Behandlung für die tiefe Hirnstimulation im Frühstadium zu personalisieren“, sagt er.

Ein weiterer entscheidender Vorzug von tTIS sind seine minimalen Nebenwirkungen. Die meisten Studienteilnehmer berichteten nur über leichte Empfindungen auf der Haut, was die Methode sehr gut verträglich und patientenfreundlich macht.

© Psylex.de – Quellenangabe: Nature Human Behaviour (2024). DOI: 10.1038/s41562-024-01901-z

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