Schmerz lernt man schneller und nachhaltiger als anderes. Mit Blick auf die Evolution ergibt das Sinn. Für Menschen mit chronischem Schmerz ist es ein Problem.
15.07.2024 „Seit meinem Hexenschuss im vergangenen Jahr bin ich schon angespannt, wenn es nur darum geht staubzusagen“, berichtet Jürgen W. „In mein Auto wage ich seitdem gar nicht mehr einzusteigen, weil es tiefergelegt ist, das fährt nur noch mein Sohn.“ So wie ihm geht es vielen. „Wir sehen jeden Tag Patient*innen, bei denen solche Erfahrungen eine Rolle spielen. Sie haben gelernt, den Schmerz zu erwarten und zu fürchten“, sagt Prof. Dr. Ulrike Bingel. Die Professorin für Klinische Neurowissenschaften leitet die universitäre Schmerzmedizin im Universitätsklinikum Essen. In verschiedenen experimentellen Studien geht sie mit ihrem Team dem Zusammenhang zwischen Schmerz und Lernprozessen auf den Grund. „Studien zu diesem Thema werden seit 20 Jahren gemacht“, sagt sie. „Aber noch nie so breit und aufwändig, wie das im Sonderforschungsbereich Extinktionslernen möglich ist.“
In den durchgeführten Experimenten geht es dabei darum, wie und welche Menschen besonders lernen, einen neutralen Reiz damit zu verbinden, dass ihm ein Schmerzreiz folgt, beziehungsweise zu lernen, dass diesem Reiz eben kein Schmerz mehr folgen wird. Um in den Versuchen einen Schmerzreiz zu verabreichen, nutzen die Forschenden eine sogenannte Thermode: ein Metallplättchen, das auf der Haut des Unterarms befestigt wird und sich erhitzen und abkühlen lässt. Im Vorfeld jedes Versuchs bestimmt das Forschungsteam die individuelle Schmerzschwelle der Teilnehmenden.
Was macht Schmerz besonders?
Das Team untersuchte mit dieser Herangehensweise zum Beispiel, ob das Lernen von Schmerz sich grundsätzlich vom Lernen anderer unangenehmer Reize unterscheidet. „Immerhin ist Schmerz ein Warnreiz, bei dem es darum geht, uns klarzumachen, dass möglicherweise eine Schädigung unseres Körpergewebes vorliegt, oder droht, die uns sogar das Leben kosten könnte“, verdeutlicht Ulrike Bingel. Als Gegenpart für den Hitzeschmerzreiz wählten die Forschenden einen unangenehmen Ton. Sie koppelten den Schmerzreiz und den Ton jeweils mit einem neutralen, optischen Reiz: Zunächst präsentierten sie den Versuchspersonen unterschiedliche geometrischen Formen, die dann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von einem der unangenehmen Reize gefolgt wurden. So lernten die Teilnehmenden, eine Form jeweils mit Schmerz oder Ton zu verknüpfen. Diese Kopplung wurde in einer weiteren experimentellen Phase wieder aufgelöst, indem nur die Formen ohne die unangenehmen Reize präsentiert wurden. Eine hergestellte Verbindung zwischen der geometrischen Figur und dem Schmerz oder Ton maßen die Forschenden über die Bewertung, als wie angenehm die Befragten die geometrische Figur empfanden. Eine Verbindung zwischen Symbol und dem unangenehmen Reiz würde sich in einer unangenehmeren Bewertung des Symbols äußern. Zusätzlich maßen die Forschenden physiologische Reaktionen wie die Hautleitfähigkeit als Zeichen von Stress.
Darüber hinaus setzte das Team in dieser Studie die funktionelle Magnetresonanztomografie ein. Diese bildgebende Methode erlaubt es, während einer Aufgabe oder eines Experiments zu beobachten, welche Hirnareale gerade besonders aktiv sind.
„Wir konnten damit zeigen, dass die Verbindung zwischen Bild und Schmerz schneller und stärker gelernt wurde als die Verbindung zwischen Bild und Ton“, berichtet Dr. Katharina Schmidt, Co-Projektleiterin gemeinsam mit Ulrike Bingel. „Die Hirnareale Insula und Amygdala, die für die Verarbeitung von bedrohlichen Reizen relevant sind, wurden stärker aktiviert, wenn es ums Lernen von Schmerz ging als beim Ton.“
„Evolutionär ergibt es durchaus einen Sinn, dass das Schmerzlernen sozusagen die Überholspur nimmt“, sagt Ulrike Bingel. „Nach dem Motto ‚Lieber Vorsicht als Nachsicht‘ konnten sich unsere Urahnen so vermutlich vor lebensgefährlichen Bedrohungen am besten schützen.“
Schmerzzunahme wird leichter gelernt
Um tiefer ins Detail vorzudringen, entwarf die Gruppe ein weiteres experimentelles Szenario für Patient*innen mit chronischen Rückenschmerzen und gesunde Kontrollpersonen, diesmal mit der Möglichkeit, Schmerz abgestuft einzusetzen, und ebenfalls mit begleitender Bildgebung. „Solche Datenerhebungen sind sehr aufwendig und können unter Umständen mehrere Jahre in Anspruch nehmen“, verdeutlicht Katharina Schmidt. „Glücklicherweise sind unsere Patient*innen der Forschung gegenüber sehr aufgeschlossen und häufig gern bereit, an Studien teilzunehmen“, freut sich Ulrike Bingel.
In der Studie mit je über 60 gesunden Personen und Patient*innen mit chronischem Rückenschmerz wurde den Proband*innen eine Salbe mit dem Chili-Inhaltsstoff Capsaicin für kurze Zeit auf die Haut aufgetragen. Capsaicin führt dazu, dass die Haut für eine Weile schmerzempfindlicher wird. Nachdem die Salbe wieder abgenommen worden war, befestigten die Forschenden die Thermode an dieser Stelle. So war es möglich, über eine leichte Erhitzung und Abkühlung der Thermode dafür zu sorgen, dass sich ein anfänglich moderater Schmerz verstärkte oder abschwächte. Dieser Vorgang wurde dann wieder mit verschiedenen geometrischen Formen verknüpft.
Auch bei diesem Experiment lernten die Teilnehmenden zunächst, den Anstieg und das Abklingen des Schmerzreizes mit den Formen zu verbinden, und später, die Verbindung wieder aufzugeben. „Dieses Lernen ist im Zusammenhang mit Schmerz sehr wichtig“, erklärt Ulrike Bingel. „Denn wir lernen einerseits, welche Bewegungen, Handlungen oder Tageszeiten mit der Verstärkung des Schmerzes verbunden sind. Genauso wichtig ist es aber auch, zu lernen, wie wir Erleichterung finden können, welche Medikamente uns vielleicht helfen.“
Die Forschenden konnten beobachten, dass die Verknüpfung eines Reizes mit einer Schmerzzunahme wesentlich schneller gelernt wird als die mit der Abnahme des Schmerzes. „Diese Gedächtnisspur bleibt auch länger im Verhalten ablesbar – ein Rest davon bleibt immer übrig“, berichtet Katharina Schmidt.
Unterschiede zwischen den Versuchsgruppen
In einer weiteren Studie untersuchten die Forschenden, ob sich das Lernen der Verbindung von Reiz und Schmerz zwischen gesunden Menschen und Personen mit chronischem, unspezifischem Rückenschmerz unterscheidet. „Chronische Schmerzen bestehen über mindestens drei Monate“, erklärt Ulrike Bingel. „Wenn wir über unspezifischen Schmerz sprechen, lässt sich für diese Beschwerden keine organische Ursache finden. Sie beruhen nicht darauf, dass fortwährend Gewebe geschädigt wird, wie das zum Beispiel bei einer Arthrose der Fall wäre.“
Beiden Gruppen von Versuchspersonen – jeweils mehr als 60 Schmerzpatient*innen und gesunden Kontrollproband*innen – zeigten die Forschenden ebenfalls verschiedene geometrische Figuren, die von einem Schmerzreiz gefolgt wurden oder auch nicht. Zunächst wurde die Verbindung zwischen neutralem Reiz und Schmerz gelernt, im Anschluss ging es um die Löschung dieser Verbindung.
„Die Studie hat gezeigt, dass Patient*innen mit chronischen Rückenschmerzen weniger zwischen den dargebotenen Figuren unterscheiden als schmerzfreie Personen“, berichtet Katharina Schmidt. „Wir können daraus schließen, dass chronischer Schmerz mit einem veränderten Bedrohungs- und Sicherheitslernen verbunden ist.“
Je mehr die Forschenden über die Mechanismen erfahren, die dem Lernen von Schmerz zugrunde liegen, desto besser hoffen sie, Patient*innen mit chronischen Schmerzen, die das Leben stark einschränken, helfen zu können. „Im Sonderforschungsbereich haben wir die Möglichkeit, mit Kolleg*innen zusammenzuarbeiten, die sich verschiedenen Aspekten und Krankheitsbildern widmen, neben Rückenschmerz, der bei uns im Vordergrund steht, zum Beispiel viszeralem Schmerz“, sagt Ulrike Bingel. „Chronischem Schmerz könnte trotz der verschiedenartigen Ausprägungen ein allgemeines Phänomen zugrunde liegen. Dem wollen wir auf die Spur kommen.“
Quellenangabe: Pressemitteilung Rubin – Ruhr-Universität Bochum
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