Essanfälle verknüpft mit Gewohnheitsstrukturen im Gehirn

Die neuronalen Schaltkreise der menschlichen Gewohnheitsbildung können bei Essstörungen gestört sein

Essanfälle verknüpft mit Gewohnheitsstrukturen im Gehirn

14.05.2023 Gewohnheiten sind wie Abkürzungen für unser Gehirn. Wenn wir uns eine Gewohnheit angewöhnt haben – z. B. den Sicherheitsgurt anzulegen, wenn wir in ein Auto steigen -, wird das Verhalten im richtigen Kontext fast automatisch. Aber Gewohnheitsbildung ist nicht immer ein Segen. Die gleichen neuronalen Schaltkreise, die bei der Bildung von Gewohnheiten helfen, liegen auch Essstörungen zugrunde, wie eine neue Studie von Forschern der Stanford Medicine zeigt.

Mithilfe von Bildgebungsverfahren des Gehirns konnten die Forscher Unterschiede in den neuronalen Schaltkreisen feststellen, die die Gewohnheitsbildung bei Menschen mit Binge-Eating-Störungen fördern, bei denen in kurzer Zeit übermäßige Mengen an Nahrungsmitteln verzehrt werden. Die Unterschiede waren bei Personen mit schwereren Störungen noch ausgeprägter. Das gewohnheitsmäßige Element dieser Störungen, so die Forscher, könnte einer der Gründe sein, warum sie so schwer zu behandeln sind.

„Eine Gewohnheit ist eine erlernte Verknüpfung. Vielleicht begann das Verhalten ursprünglich, um ein Ziel zu erreichen, aber schließlich hat man es so oft getan, dass man die Handlung ausführt, ohne über das Ergebnis nachzudenken“, sagt Allan Wang von der Stanford School of Medicine und Hauptautor der in Science Translational Medicine veröffentlichten Studie.

„Wir wollten herausfinden, ob die Gewohnheitsbildung im Gehirn bei einem so komplizierten Verhalten wie dem Essanfall [auch Essattacke genannt] eine Rolle spielt“, so Wang.

Der Gewohnheit auf der Spur

Binge-Eating-Störungen scheinen die Merkmale von Gewohnheiten zu haben. Die Episoden können durch äußere Umstände ausgelöst werden, z. B. durch den Geruch von Lebensmitteln oder eine verlockende Werbung, oder durch innere Faktoren wie Gefühle von Traurigkeit oder Frustration. Menschen mit diesen Störungen berichten auch über das Gefühl, die Kontrolle über das Verhalten zu verlieren, was bei maladaptiven Gewohnheiten vom Nägelkauen bis zur Drogensucht vorkommt.

Es war jedoch nicht bekannt, ob diese Störungen von den neuronalen Schaltkreisen der Gewohnheiten herrühren.

Um dies herauszufinden, analysierten die Forscher zunächst MRT-Scans aus dem Human Connectome Project, einem groß angelegten, von den National Institutes of Health geförderten Projekt zur Kartierung der Gehirnvernetzungen, die den menschlichen Verhaltensweisen zugrunde liegen.

Die Konnektivität des sensomotorischen Putamens

Sie fokussierten sich auf eine Region namens Striatum, die bereits früher mit Gewohnheiten in Verbindung gebracht wurde, und auf einen bestimmten Teil des Striatums – das sogenannte sensomotorische Putamen, das mit Gehirnregionen verbunden ist, die Empfindungen und Bewegungen steuern. Aufgrund dieser Verbindungen stellten sie die Hypothese auf, dass das sensomotorische Putamen für das Gewohnheitsverhalten entscheidend ist.

Als Nächstes sammelten die Forscher fMRT-Daten von 34 Personen, bei denen eine Essstörung diagnostiziert worden war, und von 22 gesunden Kontrollpersonen. Alle Teilnehmer waren weiblich. Sie beantworteten Fragen über die Häufigkeit ihrer Essanfälle und darüber, ob diese durch äußere oder innere Faktoren ausgelöst wurden.

Im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen wiesen Menschen mit Essattacken bemerkenswerte Unterschiede in den neuronalen Verbindungen des sensomotorischen Putamens mit mehreren Hirnregionen auf, was die Hypothese der Forscher bestätigte. Sie hatten stärkere Verbindungen zum motorischen Kortex, der an Bewegungen beteiligt ist, und zum orbitofrontalen Kortex, der an der Bewertung des Belohnungswertes beteiligt ist, z. B. daran, wie gut ein Essen schmeckt. Sie hatten schwächere Verbindungen mit dem anterioren cingulären Kortex, der die Selbstkontrolle steuert.

Das Ausmaß der Abweichungen spiegelte den Schweregrad der Störung wider, unabhängig davon, ob die Essattacken von außen oder von innen gesteuert wurden.

„Möglicherweise gibt es einen Verlust der Selbstregulation bei diesem Verhalten“, sagte Wang. „Gleichzeitig sind die Schaltkreise, die am motorischen Verhalten bei Essanfällen beteiligt sind, stärker ausgeprägt.“

Schlechte Gewohnheiten überwinden

Weitere bildgebende Untersuchungen ergaben, dass Patienten mit stärker veränderten Gewohnheitsstrukturen auch eine geringere Dopaminbindung bzw. Sensitivität für Dopamin in diesen Gehirnregionen aufwiesen. Dies deutet auf einen Mechanismus hin, der diesen Anomalien zugrunde liegt: Das sensomotorische Putamen verwendet Dopamin, einen Neurotransmitter, um mit dem Kortex zu kommunizieren, so dass Veränderungen der Dopaminsensitivität diese Verbindungen verändern können, so Wang. Und eine verringerte Dopaminsensitivität kann die Folge eines anhaltend hohen Dopaminspiegels bei wiederholter Exposition gegenüber belohnenden Reizen sein.

„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Konnektivität des Gewohnheitsnetzes insgesamt umso stärker verändert ist, je mehr Dopamin diese Patienten im Zusammenhang mit dem Essanfall ausgesetzt waren“, so Wang.

Es ist wahrscheinlich, dass die Gewohnheitsvernetzung auch ein Faktor bei Sucht und anderen psychiatrischen Störungen sind, so Wang. Wenn man versteht, wie die neuronalen Verbindungen bei diesen Erkrankungen gestört werden, könnte man gezielte Therapien entwickeln, z. B. die Tiefenhirnstimulation, bei der elektrische Ströme im Gehirn eingesetzt werden, um die neuronale Aktivität zu verändern.

„Ich glaube, dass es für die Patienten auch einen gewissen psychischen Nutzen hat, wenn sie diese Verhaltensweisen als gewohnheitsbedingt betrachten können“, so Wang. „Essstörungen sind kein Fehler ihrer Persönlichkeit. Sie hängen mit körperlichen Veränderungen im Gehirn zusammen.“

Ob Menschen mit Binge-Eating-Störungen eher zu anderen Gewohnheiten, guten oder schlechten, neigen, ist eine offene Frage. „Aber es ist interessant, darüber nachzudenken“, sagte er.

© Psylex.de – Quellenangabe: Science Translational Medicine (2023). DOI: 10.1126/scitranslmed.abo4919

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