Psychische Erkrankungen: Veränderungen des Gehirns

Neue Gehirnkartierungen zeigen die individuellen Hirnveränderungen auf, die mit verschiedenen psychischen Störungen verbunden sind

Psychische Erkrankungen: Veränderungen des Gehirns

14.08.2023 Ein bahnbrechendes Projekt zur Kartierung von Hirnveränderungen bei fast 1.300 Menschen, bei denen sechs verschiedene Arten von psychischen Erkrankungen diagnostiziert wurden, hat die außergewöhnliche Vielfalt der Gehirnveränderungen bei Menschen mit Erkrankungen wie schweren Depressionen und Schizophrenie aufgezeigt.

In der in Nature Neuroscience veröffentlichten Studie, die von Forschern des Turner Institute for Brain and Mental Health und der School of Psychological Sciences der Monash University geleitet wurde, wurde mit bildgebenden Verfahren die Größen bzw. die Volumina von über 1.000 verschiedenen Hirnregionen gemessen.

Individuelle statt Gruppenunterschiede

„In den letzten Jahrzehnten haben Forscher Hirnregionen kartiert, die bei Menschen, bei denen eine Vielzahl psychischer Störungen diagnostiziert wurde, ein vermindertes Volumen aufweisen, aber diese Arbeiten haben sich hauptsächlich auf Gruppendurchschnitte fokussiert, was es schwierig macht zu verstehen, was in den Gehirnen einzelner Menschen vor sich geht“, sagte Studienleiterin Ashlea Segal.

Das Team nutzte neue statistische Verfahren, die Koautor Prof. Andre Marquand vom Donders-Institut in den Niederlanden entwickelt hatte, um Hirnregionen zu kartieren, die bei Menschen mit der Diagnose Schizophrenie, Depression, bipolare Störung, Zwangsneurose, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder Autismus-Spektrum-Störung ungewöhnlich kleine oder große Volumina aufweisen.

„Wir haben ein statistisches Modell verwendet, um anhand des Alters und des Geschlechts einer Person Erwartungen hinsichtlich der Gehirngröße zu ermitteln. Wir können dann quantifizieren, wie stark das Gehirnvolumen einer einzelnen Person von diesen Erwartungen abweicht, ähnlich wie bei den Wachstumstabellen, die in der Kinderheilkunde für Größe und Gewicht verwendet werden“, sagte Studienleiter Prof. Alex Fornito.

„Wir haben frühere Ergebnisse bestätigt, dass die spezifischen Hirnregionen, die große Abweichungen im Hirnvolumen aufweisen, von Person zu Person stark variieren, wobei nicht mehr als 7 % der Personen mit der gleichen Diagnose eine große Abweichung in demselben Hirnbereich aufweisen“, so Fornito. „Dieses Ergebnis bedeutet, dass es schwierig ist, Behandlungsziele oder kausale Mechanismen zu ermitteln, wenn man sich nur auf Gruppendurchschnitte konzentriert. Es könnte auch erklären, warum Menschen mit derselben Diagnose eine große Variabilität in ihren Symptomprofilen und Behandlungsergebnissen aufweisen“, fügte er hinzu.

Konnektivität der veränderten Hirnregionen

Anschließend untersuchte das Team die Konnektivität der Bereiche, die große Volumenabweichungen aufwiesen. „Da das Gehirn ein Netzwerk ist, kann sich eine Funktionsstörung in einem Bereich auf andere, verbundene Bereiche ausbreiten. Wir fanden heraus, dass die Abweichungen zwar bei verschiedenen Personen in unterschiedlichen Hirnregionen auftraten, aber oft mit gemeinsamen vor- oder nachgelagerten Bereichen verbunden waren, d. h., dass sie sich in denselben Hirnverschaltungen zusammenfanden“, so Segal.

„Es ist möglich, dass diese Überschneidungen auf der Ebene der Vernetzungen die Gemeinsamkeiten zwischen Menschen mit derselben Diagnose erklären, zum Beispiel, warum zwei Menschen mit Schizophrenie im Allgemeinen mehr gemeinsame Symptome haben als eine Person mit Schizophrenie und eine mit Depression.“

Potenzielle Behandlungsziele für verschiedene Störungen

Das Team nutzte den neuen Ansatz, um potenzielle Behandlungsziele für verschiedene Störungen zu ermitteln. „Wir haben herausgefunden, dass bestimmte Gehirnnetzwerke bei einigen psychischen Störungen vorrangig beteiligt sind, was darauf hindeutet, dass sie potenzielle Behandlungsziele darstellen“, erklärt Segal.

„Unsere Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass diese Ziele nur für eine Untergruppe von Menschen geeignet sind. So fanden wir beispielsweise Hinweise darauf, dass Hirnvernetzungen, die mit frontalen Bereichen verbunden sind, besonders stark an Depressionen beteiligt sind. Diese Verschaltungen werden üblicherweise als Ziele für nicht-invasive Hirnstimulationstherapien verwendet, aber unsere Daten deuten darauf hin, dass sie nur für etwa ein Drittel der Menschen ein wirksames Ziel darstellen.“

Der von dem Team entwickelte Ansatz eröffnet neue Möglichkeiten für die Kartierung von Gehirnveränderungen bei psychischen Erkrankungen. „Der von uns entwickelte Rahmen ermöglicht es uns, die Vielfalt der Hirnveränderungen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen auf verschiedenen Ebenen zu verstehen, von einzelnen Regionen bis hin zu umfassenderen Hirnstrukturen und Netzwerken, was einen tieferen Einblick in die Art und Weise ermöglicht, wie das Gehirn bei einzelnen Menschen beeinträchtigt ist“, so Fornito.

© Psylex.de – Quellenangabe: Nat Neurosci (2023). https://doi.org/10.1038/s41593-023-01404-6

News zu psychischen Störungen und das Gehirn

Verschiedene psychische Erkrankungen zeigen ähnliche Verluste an grauer Hirnsubstanz

02.03.2015 Forscher haben ein gemeinsames Muster beim Verlust von grauer Hirnsubstanz bei verschiedenen psychischen Krankheiten entdeckt. Verglichen wurden: verschiedene Angststörungen, Depression, bipolare Störung, Suchterkrankungen, Schizophrenie und Zwangsstörung.

Sollten eher Symptome oder Gehirnpathologie betrachtet werden?

Bisher haben sich MRT-Studien (Magnetresonanztomographie) nur isolierte psychische Störungen angesehen, Wobei die Forscher von der Stanford University School of Medicine „von den Bäumen zurückgetreten sind, um sich den Wald anzusehen. Und sie haben ein Muster in diesem Wald entdeckt, welches die einzelnen Bäume nicht zu erkennen gaben“.

Die Analyse von 193 Studien zeigte einen Verlust an grauer Substanz in drei Gehirnstrukturen, die, obwohl physisch separat, an einem mit höheren Funktionen (einschließlich Planung und Entscheidungsfindung) verbundenen Netz angeschlossen sind. Die Befunde stellen die gängige Praxis infrage, bei der psychische Erkrankungen durch ihre Symptome unterschieden werden, statt durch ihre zugrundeliegende Gehirnpathologie.

„In vielen dieser herausgegebenen Studien, die wir analysierten, versuchten die Wissenschaftler ihre biologischen Befunde in Bezug auf die eine Störung zu interpretieren, auf die sie sich konzentrieren“, sagte Studienautor Amit Etkin in der Zeitschrift JAMA Psychiatry.

Gehirn
Symbolbild

Gemeinsame biologische Basis

„Wir versuchten, eine grundsätzliche Frage zu stellen, die nicht gestellt worden ist: Gibt es irgendeine gemeinsame biologische Basis bei psychischen Krankheiten?“

Das Forscherteam untersuchte Daten von 193 separaten MRT-Studien mit 7.381 Patienten, die in sechs diagnostische Kategorien fielen: Schizophrenie, bipolare Störung, klinische DepressionSuchtkrankheitZwangsstörung und einer Gruppe verschiedener Angststörungen.

Sie verglichen die MRT-Abbildungen mit jenen von 8.511 gesunden Kontrollteilnehmern und identifizierten drei separate Gehirnstrukturen, die wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Diese zeigten ein vermindertes Volumen der grauen Substanz, des Hirngewebes, welches die Informationen verarbeitet. Der Verlust der grauen Substanz in den drei Gehirnstrukturen (die linke und rechte vordere Insula und der dorsale anteriore Gyrus cinguli) war bei allen Patienten (mit verschiedenen psychischen Störungen) ähnlich.

Alarmglocke des Gehirns

Diese Strukturen können als die Alarmglocke des Gehirns betrachtet werden, sagte Etkin. Sie arbeiten zusammen, und signalisieren anderen Gehirnregionen, wenn die Realität von den Erwartungen abweicht: dass etwas Wichtiges und Unvorhergesehenes geschehen, oder etwas wichtiges Erwartetes nicht eingetroffen ist.

Weitere Analysen zeigten, dass der Rückgang der grauen Substanz in den drei involvierten Gehirnstrukturen unabhängig von der Anwendung von Medikamenten oder sich überlappenden psychiatrischen Bedingungen war.

Depression

Zusätzlich zum Verlust der grauen Hirnsubstanz in jenen drei Schlüsselbereichen zeigten klinische Depressive auch noch einen Rückgang der grauen Substanz in anderen Hirnstrukturen wie dem Hippocampus und der Amygdala. Dies sind zwei wichtige Regionen, die bei der Speicherung von Erinnerungen und der Verarbeitung der Emotionen eine wichtige Rolle spielen.

Schizophrenie

Schizophrene zeigten auch eine reduzierte graue Substanz in mehreren anderen Strukturen, aber auch eine Zunahme der grauen Hirnsubstanz im Striatum. Etkin legt nahe, dass dies möglicherweise eher an den antipsychotischen Medikamenten läge als an der Krankheit selbst.

© PSYLEX.de – Quellenangabe: Stanford University Medical Center, JAMA Psychiatry; März 2015

Studie: Analyse struktureller Anomalien im Gehirn bei sechs schweren psychischen Störungen

07.07.2020 Eine in Biological Psychiatry veröffentlichte Studie hat Struktursignaturen im Gehirn identifiziert, die mit psychischen Erkrankungen verbunden sind.

Die Forscher um Nils Opel und Janik Goltermann vom Fachbereich Psychiatrie der Universität Münster verglichen Daten aus mehreren Studien, um strukturelle Anomalien im Gehirn zu finden, die vier verschiedenen schweren psychischen Störungen gemeinsam sind. Die Forscher fanden auch Hirnsignaturen, die für einzelne Erkrankungen einzigartig waren.

Das Team analysierte vom internationalen Forschungskonsortium ENIGMA (Enhancing Neuro Imaging Genetics through Meta Analysis) gesammelte Daten, das genetische und bildgebende Studien zum Verständnis von Hirnerkrankungen nutzt. In den 11 multizentrischen Studien wurden Gehirn-Bildgebungsdaten von über 12.000 Menschen erfasst.

Depression, bipolare Störung, Schizophrenie und Zwangsstörung

Die Neurowissenschaftler fanden heraus, dass vier schwere psychische Erkrankungen (klinische Depression, bipolare Störung, Schizophrenie und Zwangsstörung) eine überraschend hohe Ähnlichkeit der strukturellen Anomalien ihrer Gehirne aufwiesen, schreiben die Forscher.

Die gemeinsamen Hirnareale mit strukturellen Aberrationen befanden sich hauptsächlich in kortikalen Bereichen, die mit kognitiver Verarbeitung, Gedächtnis und Selbstbewusstsein verknüpft sind.

Regionale Anomalien für bestimmte psychische Störungen

Außerdem konnten sie regionale Anomalien mit hoher Spezifität für bestimmte psychische Störungen identifizieren. Diese ausgeprägten strukturellen Unterschiede traten manchmal im gleichen Gebiet zweier psychiatrischer Krankheiten auf, jedoch in umgekehrter Ausrichtung zur Norm.

Das Auffinden regionaler Anomalien, die spezifisch für individuelle psychische Erkrankungen sind, könnte dazu beitragen, den Schwerpunkt der zukünftigen psychiatrischen und neurowissenschaftlichen Forschung auf Hirnregionen zu verlagern, die für störungsspezifische biologische Prozesse zentral zu sein scheinen, und damit die Entdeckung von Mechanismen erleichtern, die der Entstehung spezifischer psychiatrischer Störungen zugrundeliegen, sagte Opel.

ADHS und Autismus

Im Gegensatz dazu teilten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Autismus-Spektrum-Störungen keine strukturellen Signaturen im Gehirn mit anderen Störungen.

Dies könnte daran liegen, dass diese psychischen Störungen als Entwicklungsstörungen mit einer anderen Ätiologie als die anderen psychiatrischen Erkrankungen angesehen werden, die mehr Gemeinsamkeiten haben, schreiben die Studienautoren.

© PSYLEX.de – Quellenangabe: Biological Psychiatry (2020). DOI: 10.1016/j.biopsych.2020.04.027

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